"Zu Fuß und allein."
Es ist dies eine Geschichte, die auf vielen Ebenen spielt: Die Autorin, geboren 1967 und heute Journalistin und stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung, macht sich auf einen Weg der Erinnerung. Sie wandert von Osten nach Westen auf der Fluchtroute ihres Vaters, gut 70 Jahre später.
Im Januar 1945 mussten das Kind, das der Vater einmal war, und alle Menschen des schlesischen Dorfes Rosenthal, das jetzt Rózyna heißt und in Polen liegt, nach Westen fliehen, in eine ungewisse Zukunft an einen ungewissen Ort, ein beschwerlicher Treck mit Pferden und Wagen in Kälte und Schnee.
Es gibt Familiengeschichten über diese Flucht, aber nur wenige, ungenaue. Vieles ist unsagbar: Alte und Kranke sind zurückgelassen worden im Ungewissen. Der Vater der Autorin ist damals neun Jahre alt.
Das Trauma der Flucht, die sechs Wochen dauerte, ist, so die These der Autorin, den Nach-kommen eingeschrieben. Dies ist eine inzwischen durch die Forschung gut belegte These: Wir träumen die Alpträume unserer Eltern und schrecken nachts hoch.
Es gibt also erzählerisch die Ebene der Flucht und es gibt die Ebene der Verarbeitung. Als weitere Ebene erzählt uns die Autorin, wie sie selbst sich zu Fuß und allein als ältere Frau auf eben diese Route begibt, durch Polen, Deutschland und die tschechische Republik, auf den Spuren dieses Trecks, auf den Spuren ihrer Vorfahren. Und es gibt die Ebene ihrer Besuche in Rózyna zwischendurch, etwa mit ihren eigenen Kindern und ihrem alten Vater.
Christiane Hoffmann will etwas verstehen, und sie will etwas bewahren: "Diese Fluchtgeschichte war das einzige, an das wir uns halten konnten. Andere erbten Höfe, Häuser, Betriebe, die ihre Großväter gegründet hatten, erbten Tischwäsche und Silberbesteck mit Familieninitialen, erbten Dachböden mit Kisten, in denen sie Liebesbriefe der Urgroßmutter fanden oder ihr Hochzeitskleid. In unserer Familie gab es nichts."
Auf ihrer beschwerlichen Wanderung, die sie wegen der Corona-Epidemie in zwei Etappen bewältigt, hat sie viele Begegnungen mit den Menschen in den Dörfern entlang der Route, deren Vorfahren ihrerseits umgesiedelt worden sind.
Vertreibung, Flucht, Umsiedlung und die oftmals tief verschütteten Erinnerungen daran. Was macht das mit den Menschen und ihren Nachkommen?
Auf diese Fragen sucht Christiane Hoffmann Antworten in diesem spannenden Buch. Die Le-serin verfolgt die Suche gebannt und ergriffen mit.
Ellen Klandt für das Büchereiteam
Personen: Hoffmann, Christiane
Hoffmann, Christiane:
Alles, was wir nicht erinnern : Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters / Christiane Hoffmann. - München : C.H. Beck. - 274 Seiten : Illustrationen
ISBN 978-3-406-78493-4
Biographie, Briefe, Tagebücher - Signatur: B Hof - Buch