Hermann, Judith
Wir hätten uns alles gesagt
Buch

Dieses Buch hat für mich einen Zauber. Es beginnt schon mit dem Titel: Wer ist mit "wir" gemeint? Die Familie? Die Freunde? Dann der Konjunktiv "hätten" - rätselhaft. Die Genre-Bezeichnung "Poetikvorlesung" ist auch verwirrend - ist es ein akademisches Buch? Gesagt wird: es geht um das Schreiben über das Schreiben - und das "Schweigen und Verschweigen im Schreiben". Geheimnisvoll.
Dann aber, im ersten Teil, die ganz handfeste Schilderung einer nächtlichen zufälligen Begeg-nung mit dem Psychoanalytiker der Ich-Erzählerin. Wir erfahren, dass sie zehn Jahre lang eine Therapie machte, an deren Anfang sie in den Sitzungen immer lange schwieg. Und von Ada wird berichtet, einer engen ehemaligen Freundin der Ich-Erzählerin, von Marco, einem Künstler, der elendiglich starb. Von Sommern mit diesen Menschen und Freunden und Kindern in einem alten großen Haus am Meer, dem Haus der Kindheit der Erzählerin.
Im zweiten Teil geht es um die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern. Menschen, die ein schweres Schicksal hinter sich haben oder noch in ihm verfangen sind. Über ihr Elternhaus schreibt Hermann: "Unser Haus war ein Haus der Stimmungen, Ahnungen, Verfassungen. Es war unsicher, unverständlich und für ein Kind absolut unberechenbar." In diesem Haus wurde nie gelacht, nie gesungen; der jähzornige Vater neigte zu Gewaltausbrüchen; die Mutter des Vaters beschützte das Kind "auf eine passive Weise." "Es ist meinem Vater ein Anliegen gewesen, mich in Angst zu versetzen."
Die Mutter verdiente als Blumenverkäuferin den Lebensunterhalt der Familie. Sie war abwe-send, für das Kind nie da, im wörtlichen und übertragenen Sinne. Die Mutter der Mutter aber war ein Zufluchtsort für das Kind; sie war liebevoll und kochte, was das Kind sich wünschte.
Über allen Mitgliedern der Familie lastet schwer die Vergangenheit von Krieg, Flucht oder SS-Zugehörigkeit. Das Kind versteht die Andeutungen nicht, es fühlt sich nur unbehaust. Der Vater kommt, als Hermann schon erwachsen ist, in die Psychiatrie und bleibt dort zehn Jahre lang.
Im dritten Teil passiert Covid. Eine neue Figur, Jon, wird eingeführt, die die Geheimniskräme-rei der Ich-Erzählerin kritisiert. In einem kurzen Moment öffnet sie sich und sagt: "Ich bin das traumatisierte Kind eines depressiven Vaters, ich komme aus einer Familie von Verrückten, ich muss die vielfältigen Symptome der Krankheiten des Geistes verbergen. (.) Mir wurde erst (.) die Verbindung zwischen meiner Geheimniskrämerei und den verdunkelten Zimmern meiner Kindheit klar."
Hier löst sich das Rätsel des Titels: Sie und Jon hätten sich alles sagen können, wenn sie sich geöffnet hätte - was wäre "alles" gewesen?
In der Pandemie-Einsamkeit wird deutlich: eine Versöhnung mit der Herkunftsfamilie gibt es nicht; die Wahlfamilie ist zerbrochen. Die Erzählerin bleibt allein.
Ein verstörendes Buch voller Weisheit.

Ellen Klandt für das Büchereiteam


Dieses Medium ist verfügbar. Es kann vorgemerkt oder direkt vor Ort ausgeliehen werden.

Personen: Hermann, Judith

Interessenkreis: Gemeindebriefrezensionen

Hermann, Judith [Verfasser]:
Wir hätten uns alles gesagt / Judith Hermann. - 2. Auflage. - Frankfurt am Main : S. FISCHER, 2023. - 192 Seiten ; 20.5 cm x 12.5 cm, 300 g
ISBN 978-3-10-397510-9 : 23.00 (DE), EUR 23.70

Zugangsnummer: 2023/0090 - Barcode: 2-3111140-7-00021606-7
Romane, Erzählungen - Signatur: Her - Buch