Reski, Petra
Als ich einmal in den Canal Grande fiel vom Leben in Venedig
Buch Sachbuch

Der Stadt beim Sterben zuschauen

Wo das Neue der Feind des Guten ist: Petra Reski porträtiert ihre Wahlheimat Venedig.

Die aus dem Ruhrgebiet stammende Petra Reski lebt seit dreißig Jahren in Venedig und schreibt, wenn sie nicht gerade zur Mafia in Sizilien, Duisburg und Erfurt recherchiert oder auf Reportagereise ist, regelmäßig über die Lagunenstadt, über deren Ausverkauf und Vermarktung wie über den Alltag zwischen Vaporetto und Supermarkt. Venedig hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten verändert, die Gefährdungen durch Massentourismus, Hochwasser, Umweltzerstörung und Politikversagen sind gewachsen, aber der Widerstand dagegen auch.

In vielen Beiträgen hat Petra Reski auch für diese Zeitung darüber berichtet: über den Ansturm der Tagesbesucher, die sich vom Bahnhof zum Markusplatz schieben, über die Vertreibung der Einwohner, die - seit 1980 hat sich ihre Zahl von hundert- auf fünfzigtausend halbiert - aufs Festland ziehen, über die Umwandlung von Wohnungen in Airbnbs und von Werkstätten in Boutiquen, über gierige Bürgermeister, die mit dem Kulturerbe merkantilistisch umgehen, über Kreuzfahrtriesen, die Müll und Feinstaub zurücklassen und die Fundamente der Stadt angreifen, über das "Milliardengrab" Mose, dessen Fluttore die Strömungsverhältnisse und das fragile Ökosystem der Lagune verändern.

Das Leben in Venedig bestehe, so Petra Reski, vor allem darin, der "Stadt beim Sterben zuzuschauen". Doch da sie um den Zauber des "realen Traumgebildes" weiß, kann sie sich damit nicht abfinden: Sie wird zur sendungsbewussten Aktivistin, die "in meiner Heimatstadt" auf der Bürgerliste "Terra e Acqua" für den Stadtrat kandidiert.

In ihrem neuen Buch werden all diese Themen zusammengeführt und mit persönlichen Erlebnissen, Begegnungen, auch mit (kunst)historischen Lektüren und Episoden verbunden. Petra Reski erzählt von ihrem Freund Alberto, einem Opernarien schmetternden Fischer, der immer auf San Pietro di Castello wohnte und sich auf einmal in Mestre wiederfindet, von ihren Nachbarn, einem Rentnerpaar aus Ohio, das den Gartenschlauch im Innenhof mit einem Hängeschloss sichert, von dem Schriftsteller Gaston Salvatore, der auf San Michele beerdigt wurde, von dem alten Conte, der sich mit Wassereimern gegen die Gondelserenaden wehrte, vom Dünkel der Gondolieri und von einem Aufenthalt im Krankenhaus, schließlich von der Pandemie, als plötzlich alles anders ist: "In unseren Ohren dröhnt die Stille."

Die Komposition der Texte ergibt mehr als die Summe ihrer Teile. Denn enthalten ist auch die Geschichte einer Integration, Petra Reskis langwierige Aufnahme in eine traditionsstolze, sich durch Abkapselung schützende Stadtgesellschaft, die sich nicht vom Festland aus verwalten lässt. Als der Mann in der Bar Al Teatro, der ihr fünf Jahre lang, ohne ein Wort zu sagen, Zigaretten verkaufte, sie auf einmal und das gleich sehr persönlich anspricht ("Hast du dich gestritten?"), ist das die erste Anerkennung. Als sie, was nur Venezianern gestattet ist, eine Anlegestelle für ein Boot, eine "topetta", erwirbt, ist das die symbolische Eintrittskarte. Und als sie, "glücklicherweise nicht kopfüber", in den Canal Grande fällt, ist das ein Fauxpas, der sich als profane Initiation deuten lässt. Jetzt müsste sie nur noch Venezianisch lernen, "kein Dialekt, sondern eine gemeinsame Vergangenheit, eine Kultur, ein Zusammengehörigkeitsgefühl".

Mit dem Aufstieg zur Venezianerin lernt Petra Reski eine andere Lebenswelt kennen, die sich ihren Sinn für Schönheit und ihre Werte bewahrt hat. Verkörpert wird sie von dem "Venezianer an meiner Seite", der, mit Diskretion porträtiert, die geheime Hauptperson des Buches ist: Dass er seit Jahrzehnten einen Palazzo restauriert und (so ein Stück Venedig) rettet und dafür alte Mauersteine aufkauft, die "von den Arbeitern Stück für Stück beäugt, abgebürstet und gereinigt" werden, oder dass er sich darüber empört, dass die Kirche von San Moisè im neunzehnten Jahrhundert abgerissen werden sollte, macht ihn zu einer allegorischen Figur der Stadt, die nicht ausschließlich auf Nutzen ausgerichtet ist und "nicht in Jahrzehnten, sondern in Jahrhunderten" denkt. Die Vergangenheit ist hier ständige Gegenwart und das Neue der Feind des Guten. Wie dieses einzigartige Venedig gegen die Vereinheitlichung der Welt zu verteidigen ist, macht den Kern des Buches aus, seine kulturkritische Essenz.

Petra Reski entgeht nichts, auch nicht die "Männer in Radlerhosen, die im Säulengang des Dogenpalastes schwitzend Liegestütze machen, beobachtet von staunenden Nonnen im Gegenlicht". Sie schreibt offenherzig, mit Verve, Humor und Selbstironie, das kann sich auch mal sentimental, melodramatisch oder kokett anhören. Dem Buch sind viele Leser zu wünschen. Ins Chinesische und Japanische übersetzt werden aber sollte es besser nicht. Denn nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die vielen "Venedig-in-zwei-Stunden-Kreuzfahrttouristen" sich auf Petra Reskis Spuren begäben und die Stadt bis in die hinteren Winkel erkundeten. Es wäre der Untergang der Serenissima. ANDREAS ROSSMANN


Dieses Medium ist verfügbar. Es kann vorgemerkt oder direkt vor Ort ausgeliehen werden.

Personen: Reski, Petra

Schlagwörter: Venedig Erfahrungsbericht

Reski, Petra:
Als ich einmal in den Canal Grande fiel : vom Leben in Venedig / Petra Reski. - Originalausgabe. - München : Droemer, März 2021. - 269 Seiten
EAN 9783426278468 Festeinband : EUR 18,90 (AT)

Zugangsnummer: 0017827001 - Barcode: 0000178877
Reiseberichte International - Signatur: EL RESK - Buch Sachbuch