Schorsch und Marie stehen nahe beieinander auf der Straße, eigentlich könnte das eine Liebesgeschichte werden. Aber es ist Ende April 1945, die Amerikaner stehen kurz vor der oberbayerischen Stadt Penzberg. Als im Radio zur gewaltlosen Kapitulation aufgerufen wird, entschließen sich ein paar Bürger zu raschem Handeln. Es gelingt ihnen nicht nur, das lokale Bergwerk vor der Sprengung zu bewahren, sie retten auch Hunderte Kriegsgefangene vor der möglichen Erschießung in letzter Minute. Eine Heldentat? Die Stadtbewohner zweifeln, ziehen sich furchtsam in ihre Häuser zurück. Auch Hauptmann Bentrott, Angehöriger eines zufällig durchziehenden Wehrmachtskommandos, zögert. Soll er sich den demokratischen Rebellen anschließen? Oder bringt er sich mit dem Hochverrat selbst in Gefahr? Hauptmann Bentrott ist besonnen, er überlässt die Entscheidung seinem Vorgesetzten und bleibt bei dem, was folgt, Zuschauer: Die Rebellen werden festgenommen, sofort erschossen und im Wald verscharrt. Maries Vater, der Reithofer, kann gerade noch untertauchen. „Er fragt nicht, warum der Clemens ihm hilft, der Clemens fragt sich das auch nicht. Weil es richtig ist. Weil auch in diesen Zeiten irgendwer das Richtige tun muss.“ Kirsten Boie erzählt das Geschehen der zwei Tage nüchtern, dokumentarisch, basierend teils auf Originalzitaten in zuweilen fast unerträglicher Knappheit. Greift nur an wenigen Stellen als Erzählerin ein und stellt beiläufig Fragen, die den Ereignissen eine beklemmende Tiefe geben. Ihre vielschichtige Erzählung – ist das nicht schon ein Roman? – entreißt das Schicksal der Rebellen dem Vergessen und gibt den unterschiedlichsten Gefühlen von Tätern und Zuschauern Raum. „Ist das Grauen nun endlich vorbei?“, fragt Marie. Nein, Marie, nichts ist vorbei: Denn der Gauleiter will Strafe und schickt die „Werwölfe“ in den Ort. Die zerren wahllos „Verdächtige“ aus den Häusern und hängen sie vor dem Rathaus auf: 16 Menschen kommen in dieser Penzberger Mordnacht zu Tode. Mit ihrem Erzählen gibt Kirsten Boie diesen Menschen Würde zurück und erinnert an ihren Mut: „Ist so zerbrechlich, der Mensch, hält nicht viel aus, der Mensch mit seinem schwachen Genick, vielleicht hat er noch etwas gespürt, hat gezappelt, nur kurz: der Belohlawek, der Biersack, und all die anderen.“ Kirsten Boies Erzählung ist weit mehr als ein herausragendes Jugendbuch, es ist ein Buch darüber, wofür man mit seinem Menschsein einstehen möchte. Und damit gleichermaßen bedeutsam für Jugendliche wie für Erwachsene.
Personen: Boie, Kirsten
Boie, Kirsten:
Dunkelnacht : [Plädoyer für den Frieden] / Kirsten Boie. - Originalausgabe, 1. Auflage. - Hamburg : Verlag Friedrich Oetinger, [2021]. - 127 Seiten. - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2022
EAN 9783751200530 Festeinband : EUR 13,40 (AT)
Romane für junge Erwachsene - Signatur: DR.J BOIE - Buch Dichtung