"Hofrat Geiger" triumphiert über die Geschichte Die Ankündigung von Arno Geigers Roman "Es geht uns gut" in der Verlagsvorschau des Hanser Verlags hat mich neugierig gemacht: Drei Paare einer österreichischen Familie, in deren privater Unordnung sich die politische spiegelt, nicht chronologisch, sondern ineinander verschränkt erzählt, das schien mir ein überzeugendes literarisches Konzept für einen modernen Generationenroman. Ich erwartete, die Geschichte der Zweiten Republik und deren Vorgeschichte, aufgehängt an individuellen Schicksalen, auf heutigem Wissensstand nichtlinear dargestellt zu bekommen - und war gespannt. Und so kam es, wie es mitunter kommt, wenn die Erwartungen künstlich hochgeschraubt werden. "Er hat nie darüber nachgedacht", fange ich zu lesen an. 390 Seiten später weiß ich: Der Satz war Programm. Und bei der Lektüre der unzähligen Sätze dazwischen bemerkte ich mit wachsendem Unverständnis, wie zur Unbedachtheit auch noch Ungeschick und Unvermögen dazukamen. Ungeschick schon im ersten Absatz in der Formulierung: "Schicht auf Schicht wie Zins und Zinseszins." Nun ist der Zinseszins ein Anteil vom Zins, etwas Abgeleitetes, nichts Draufgelegtes. In diesem Vergleich sind somit die sprachlichen Schichten durcheinander geraten. Kleinlich, mag man sagen, bei dem Bogen, den der Autor über 60 Jahre heimischer Historie spannt. Stimmt, ginge es nur um ein paar Schlampigkeiten. Ist aber nicht der Fall. Je länger man liest, desto deutlicher wird nämlich, dass die sprachlichen Schnitzer nicht einem Konzept folgen, also etwa einer Rollenprosa zuzuschreiben sind, nein, sie sind relativ gleichmäßig über den gesamten Roman und dessen Personal verteilt. Würde "Spiegel"-Redakteur Bastian Sick seine Sprachglosse "Zwiebelfisch" mit Beispielen aus "Es geht uns gut" bestücken wollen, er hätte Material für Jahre. Denn es geht dabei nicht um Beckmessereien, wie zum Beispiel, dass Arno Geiger die südsteirische Stadt Leibnitz wie den deutschen Universalgelehrten Leibniz schreibt. Es geht auch nicht darum, dass Soldaten hier ihre "schußbereiten Gewehre unter den Ellbogen" tragen. Meinethalben soll es sogar noch einen "siebten Sinn" geben, auch wenn mich mein sechster schon oft betrügt. All diese Gedankenlosigkeiten, selbst wenn sie in einem Buch eines renommierten Hauses wie Hanser in dieser Massivität eher selten vorkommen, sind nur Symptome. Schon seit Erscheinen des Buches und immer noch ist auf der Homepage der Online-Buchhandlung Amazon ein Auszug aus Geigers Roman zu lesen. Es sind ein paar Seiten aus jenem Kapitel, das im August 1938 spielt und das in mancherlei Hinsicht für den Roman repräsentativ ist. "Mit Haaren, die … hinten kreuzquer verlegen sind", heißt es da; eine Formulierung, die mich verlegen macht. "…dass Crobath … sich als Eislauflehrer am Heumarkt verdingte, um seine magere Menage aufzubessern", liest man da. Eine Verwendung des Wortes Menage, für die man zum sprachlichen Rapport abkommandiert werden sollte. Und dann habe ich mich bemüht, mir vorzustellen, wie das zugeht, wenn "Frieda Tassen und Schalen mit etwas sanft Schepperndem in ihren Bewegungen" verteilt. Ob das Scheppernde in den Bewegungen ebenso schmerzhaft ist, wie wenn Crobath "seine Augen auf das Mädchen" heftet oder "alle mit ins Rad greifen"? Geiger opfert der (scheinbar) witzigen Formulierung die sprachliche Präzision. Und genau dieser Umgang mit Sprache findet sich in seiner Behandlung der Geschichte wieder. In besagtem Kapitel geht es um die Vorgeschichte der Zweiten Republik, also darum, woran der 1945 gegründete Staat anschloss. Da trifft nun der christlichsoziale Vizedirektor der städtischen Elektrizitätswerke Dr. Richard Sterk im August 1938 auf den soeben an die Macht gekommenen Nazi Crobath, seinen ehemaligen Kameraden von den Naturfreunden, und der Autor merkt auktorial an, dass Crobath "in seiner Kantigkeit vitaler und um Jahre jünger wirkt" als Richard. Der so ein wenig dekadent charakterisierte Christlichsoziale wird in der Folge von dem kraftmeierischen Nazi dazu aufgefordert, eine Klage gegen einen seiner Parteigenossen zurückzuziehen. Was macht daraufhin der spätere Minister der Zweiten Republik? Er überlegt, wie er die "kinderspeckige Weinviertler Molligkeit" wieder los wird, die er zu seiner Geliebten gemacht hat. Denn "die Intimitäten mit dem Kindermädchen haben ihn, was Inkorrektheiten anbelangt, an die Grenze seiner Belastbarkeit geführt". Indem er Ordnung in seine privaten Verhältnisse bringt, löst er also den politischen Konflikt bzw. die politische Bedrohung auf. Und damit ist die Haltung des Autors bezeichnet, die sich durch das Buch zieht: dass nämlich das Private das Politische beeinflusst und nicht umgekehrt. Zu zeigen, wie sehr damals das Politische das Private beherrscht hat, darin hat ein Autor jegliche Freiheit. Stattdessen benutzt Arno Geiger die Wirklichkeit, um seine Fantasiearmut mit "signalartigen Realpartikeln" (siehe Wolfgang Straub) zu kaschieren. Geschichte wird hier ersetzt durch eine geschickte Aneinanderreihung von Klischees. Es ist ein falsches Spiel mit Versatzstücken der Geschichte, vergleichbar mit der "Ostalgie" ehemaliger DDR-Bürger, welche die "Realverfassung" des Staates verdrängt und verleugnet. Noch deutlicher wird das im Kapitel, in dem Geiger den Kampf einiger Hitlerjungen gegen zwei T-34-Panzer der Roten Armee schildert: "Der Vierzehnjährige … wirft die jetzt abgezogene Handgranate in das Rohr des Geschützes, das kurz darauf mit einem satten Knall platzt." Nachdem das Grüppchen Hitlerjungen solcherart zwei sowjetische T-34-Panzer lahm gelegt hat, fliehen zwei von ihnen über die Weingärten nach Kahlenbergerdorf. Ein solche Landser-Heft-Romantik hätte sich nicht einmal der "Völkische Beobachter" zu schreiben getraut. Abgesehen davon, dass Fähnleinführer" kein Dienstgrad der Hitlerjugend war, sondern ein Anführer im "Jungvolk", waren Fähnleinführer auch schon älter als 14 Jahre. Beim Einmarsch der Roten Armee gab es keine kämpfenden Fähnleinführer mehr in Wien. Die waren nämlich entweder schon Soldaten oder bereits tot. Dazu kurz Grundsätzliches: Geschichte wird seit je von der Literatur als Stoff verwendet. Dabei muss sich der Dichter keineswegs an das halten, was war. Doch, wie Ruth Klüger in ihrer Wiener Vorlesung über "Dichter und Historiker - Fakten und Fiktionen" festgestellt hat, kann, "wer über Wirkliches schreibt, sich nicht über Wirkliches hinwegsetzen". Ist es "doch gerade unser Wissen um die Tatsachen, das uns begierig macht zu erfahren, was der Dichter damit angefangen hat". Und was fängt nun Arno Geiger damit an? Nehmen wir die Schlussszene, die Wolfgang Straub (siehe dort) so begeistert. Die kann man - kontrastiert man sie mit dem Anfangsbild - auch ganz anders lesen als ein "in die Welt hinausreiten". Man kann sie als ein Triumphieren über den Dreck der Geschichte interpretieren. Haben doch in der Anfangsszene die Friedenstauben auf dem Dachboden der Hietzinger Villa (die symbolisch für die Casa d'Austria steht) die dort lagernden Kriegserinnerungen zugeschissen. Held Philipp, der von der Vergangenheit nichts wissen, aber sehen will, was er ererbt von seinen Vätern, steckt kurz den Kopf durch die Dachbodentüre, um vom Pesthauch sofort zurückgestoßen zu werden. Am Schluss nun, als die ausländischen Schwarzarbeiter aufgeräumt haben, lässt er auf dem Dach allen Dreck unter sich: Die Geschichte ist entsorgt. Geiger spielt Dr. Jekyll and Mr. Hyde mit seinem Roman(anti)helden Philipp. Der Autor konstruiert sich einen geschichtsverdrängenden Helden, der von seinem (angeblich) geschichtsaufarbeitenden Autor auf den rechten Pfad geführt wird. Der eigentliche Held des Buches ist nämlich der Autor, der beflissen eine Geschichte rapportiert, die sein Mr. Hyde zu verdrängen sucht, und die sich in jeder Jubiläumsbroschüre zu den Republiksfeiern gut ausgenommen hätte. Der Autor wird zum Selbsttherapeuten. "Wo sich Literatur der Geschichte nur bedient, sie sozusagen kannibalisiert, da verkommt sie zum Kitsch." Sagt Ruth Klüger. So gesehen stimmt an diesem Buch nichts, nicht einmal der Titel: Es geht uns nämlich nicht gut, gar nicht gut - mit Romanen dieser Art, bei denen nämlich kein, wie es typisch hölzern einmal heißt, "Denkprozess in Bewegung gekommen ist". Dass der Verlagslektor, der das Manuskript angenommen hat, das Buch verteidigt, mag man noch verstehen, dass diese bedruckten Seiten jedoch mit viel medialem Aplomb den "Deutschen Buchpreis 2005" für das beste Buch des Jahres bekommen konnten, das kann ich nur als Menetekel für die Literaturkritik in deutschsprachigen Landen betrachten. *Literatur und Kritik* Harald Klauhs
Personen: Geiger, Arno
Geiger, Arno:
Es geht uns gut : Roman / Arno Geiger. - München : Hanser, 2005. - 389 S.
ISBN 3-446-20650-7 fest geb. : ca. Eur 22,10
Belletristik für Erwachsene - Signatur: DR. GEIG - Buch Dichtung