Wenn der Schrecken jede vorstellbare Größe überschreitet, schlägt er manchmal in groteskes Gelächter um. Die Belagerung Leningrads durch die Deutsche Wehrmacht (1941-1944) gilt als eine der schrecklichsten Bühnen der Weltgeschichte, auf der sich die unheimlichsten Geschichten abgespielt haben. Eine nennt sich "Stadt der Diebe" und gleicht einem Plot des russischen Schriftstellers Daniil Charms, den man zu dieser Zeit wegen seiner irrwitzigen Geschichten in der verhungernden Stadt extra einsperrte, um ihn unter Bewachung verhungern zu lassen. Bei David Benioff fällt neben dem Erzähler Lew, der als Siebzehnjähriger zu einem letzten Aufgebot der Verteidiger Leningrads gehört, ein deutscher Soldat an einem Fallschirm tot vom Himmel. Lew nimmt dem toten Fritz, wie die Deutschen allgemein genannt werden, ein Messer ab und wird darauf hin als Plünderer abgeführt. Der Exekution kann er nur entgehen, wenn er zusammen mit dem ebenfalls zum Tode verurteilten Kolja ein Dutzend Eier organisiert, um für die Hochzeit der Kommandanten-Tochter eine echte Hochzeitstorte zu ermöglichen. Die Eier-Tour führt die beiden Helden zu Verbrechern, die sich mit Totschlag über Wasser halten, zu ausgebombten Straßenzügen, in denen die ehemaligen Freunde verschüttet liegen und schließlich außerhalb der Stadt zu einer Partisanengruppe, die den SS-Mann Abendroth jagt. Die Eiersuche verläuft zwischendurch erotisch, denn neben dem Überlebenskampf und der historischen Aufklärung wird Lew auch in der Formulierung seiner sexuellen Vorstellungen genauer. Und den Partner Kolja plagt während der Mission eine katastrophale Verstopfung, so dass er sich schon auf das Fest freut, wenn das Vaterland gerettet ist und die Verdauung los geht. Kolja arbeitet überdies an einem Roman "Der Hofhund", in dem im Sinne von Krieg und Frieden alles Wesentliche in grotesker Form dargestellt werden soll. Von Tirolern begleitet, "das müssen Tiroler sein, ihr Dialekt ist schwer zu verstehen", (276) stoßen die Partisanen und Eiersucher auf Abendroth, der sich auf ein Show-Down einlässt. Zuerst wird Schach gespielt, dann ersticht Lew seinen ersten Feind, zufälligerweise ein großes Kaliber wie Abendroth. Nach allen Katastrophen gibt es so etwas wie ein verdecktes Happy-End. Die Eier sind gerettet, aber überflüssig, weil schon andere Eier gebracht haben, Freund Kolja stirbt, aber die Stadt wird befreit. Und nach dem Krieg taucht die ehemalige Partisanin beim Erzähler auf und ist offensichtlich für die große Liebe bereit. In David Benioffs historischer Groteske ist die Welt auf den Kopf gestellt, das Unsinnigste hilft beim Überleben, die Werte sind seitenverkehrt aufgespannt, so werden etwa bei einer Säuberung die des Lesens Kundigen erschossen und während die Analphabeten überleben. Der Tod ist so nah, dass man ihn nicht mehr wahr nimmt. Und selbst als Leser schüttelt man jedes Desaster ab und bleibt den Helden auf den Fersen. Stadt der Diebe ist trotz des erzählten Schreckens ein wunderbar luftiger Roman! Helmuth Schönauer
Personen: Benioff, David Mössner, Ursula-Maria
Benioff, David:
Stadt der Diebe : Roman / David Benioff. Aus dem Amerikan. von Ursula-Maria Mössner. - München : Heyne, 2010. - 381 S.
ISBN 978-3-453-40715-2 kart. : ca. € 10,30
Belletristik für Erwachsene - Signatur: DR BENI - Buch Dichtung