Rezension: "Am Anfang liegt eine Fundnudel auf dem Boden: . dick und geriffelt, mit einem Loch drin von vorn bis hinten. Etwas getrocknete Käsesoße und Dreck klebten dran. Ich hob sie auf, wischte den Dreck ab und guckte an der alten Fensterfront der Dieffe 93 rauf in den Sommerhimmel." Rico fragt sich, was das für eine Nudel ist und wo sie herkommt. Frau Dahling aus dem dritten Stock - wie immer am Samstag mit Lockenwicklern im Haar - hält sie für eine Rigatoni in Gorgonzola-Soße. Fitzke vom vierten Stock, wie immer im Schlafanzug und auch sonst ziemlich ungepflegt, schluckt die Nudel, schlägt die Tür zu und macht damit weitere Recherchen unmöglich. Dabei wollte Rico das ganze Haus abklappern, vor allem auch beim Neuen vom vierten Stock klingeln und vielleicht einen Blick in dessen Wohnung erhaschen. Rico liebt es, in Wohnungen anderer Leute zu sehen. Das hat auch damit zu tun, dass er von der Welt sonst wenig sieht, weil Rico ist tiefbegabt. "Das bedeutet, ich kann zwar sehr viel denken, aber das dauert meistens etwas länger als bei anderen Leuten. An meinem Gehirn liegt es nicht, das ist ganz normal groß. Aber manchmal fallen ein paar Sachen raus, und leider weiß ich vorher nie, an welcher Stelle." Und er bringt links und rechts durcheinander, hat "ein Orientierungsvermögen wie eine besoffene Brieftaube in einem Schneesturm bei Windstärke 12." Ricos Welt ist die lange Dieffe, die seine Mutter, eine richtige Blondine, aber furchtbar nett, deswegen ausgesucht hat, weil es in dieser Straße alles gibt, was Rico braucht. Er muss also nie abbiegen. Kein Wunder, dass er sich bei seiner ersten Begegnung mit Oskar von eben dem fragen lassen muss: "Kann es sein, dass du ein bisschen doof bist?" Oskar ist übrigens hochbegabt, daher weiß er auch, dass ständig irgendwelche Unfälle passieren, oft Kindern, oft mit Kopfschaden. Also ist es nur folgerichtig, dass er immer einen Motorradhelm trägt. Die beiden geben naturgemäß ein wunderbares Paar ab; dass ihr aufkeimende Freundschaft sich nicht wirklich entwickeln kann, hat mit dem sogenannten "Aldi-Entführer" zu tun, der seit Monaten Berliner Kinder entführt (und für billige 2000 Euro zurückgibt!). Ein Kinderkrimi, ja, aber der Plot ist tatsächlich nur peripher wichtig. Dass man beim Lesen immer wieder mal das Gefühl hat, hier schreibt einer im Gefolge von Erich Kästners "Emil", nur zeitgemäßer und komischer, hat also nicht nur damit zu tun. Es ist vielmehr die Art, wie Steinhöfel die Stadt Berlin, besser: das Grätzl (den Kiez) um die Dieffe und das Mietshaus Nr 93, in Szene setzt, wie er die Figuren ausnahmslos - aber fast durchgehend liebevoll - überzeichnet, wie er immer wieder kleine höchst komische Szenen einbaut, wie er seinen Figuren in großer Zärtlichkeit verbunden ist. Das alles erinnert an Kästner (und Peter Schössow gibt einen ausgezeichneten Walter Trier!). "Rico, Oskar und die Tieferschatten" gehört zu den klügsten, unterhaltsamsten Büchern der Saison, ein potentielles Lesevergnügen nicht für junge LeserInnen, sondern auch für die mitlesenden Erwachsenen. Alle werden erholt und glücklich aus diesem Leseabenteuer in eine Wirklichkeit zurückkehren, die viel rauher ist, als in diesem Großstadtkinderroman dargestellt. An einem platten Realismus aber lag Steinhöfel noch nie, vielmehr schreibt er moderne Märchen, die zugleich ein Plädoyer sind für die Wahrnehmung des Besonderen in den Menschen und einen offenen und zärtlichen Umgang mit ihnen. *ag* Franz Lettner
Altersempfehlung: ab 9 Jahren.
Personen: Steinhöfel, Andreas
Standort: geübte Leser
Leseror. Aufstellung: geübte Leser
Steinhöfel, Andreas:
Rico, Oskar und die Tieferschatten / Andreas Steinhöfel. Mit Bildern von Peter Schössow. - Hamburg : Carlsen, 2008. - 220 S. : Ill. s/w
ISBN 978-3-551-55551-9 fest geb. : 12,90
Erzählungen 9-12 Jahre - Signatur: Ju 2 / Ste - Buch