Dass die Praktische Theologie theoretisch fundiert ist, beweist der Grazer Pastoraltheologe in dieser Zusammenstellung seiner jüngeren Artikel zur Wissenschaftstheorie seines Faches. Obwohl nur das letzte programmatische Kapitel eigens für das Buch verfasst und die anderen Beiträge bereits verstreut publiziert und "weitgehend in ihrer ursprünglichen Form belassen" (10) wurden, durchzieht auch sie implizit, was in Vorwort (9-11) und Abschlusskapitel (203-232) explizit thematisiert wird: die kenotische Anlage Praktischer Theologie. "In einer kenotischen Exposure-Struktur […] könnte es gelingen, die Praktische Theologie weiter in Richtung jener Zumutung zu formatieren, ohne die es keinen Glauben gibt: die Zumutung der Bescheidenheit jenseits aller Selbstgerechtigkeit." (10) Kenotisch ausgerichtet, "sich selbst entäußert" (nach Phil 2,7), tritt Pastoraltheologie in den sie (und jede Theologie) leitenden Kontexten, Kirche, Wissenschaft und Gesellschaft (selbst-)distanziert, (selbst-)reflektiert und (selbst-)kritisch auf. Diese Grundzüge von Buchers Pastoraltheologie lassen sich anhand ausgewählter wissenschaftstheoretischer Themen seines Buches nachverfolgen: leitenden Paradigmen der Pastoraltheologie; der Reflexion auf den sozialen Kontext von Wissenschaft: die Universität; und der eigenen theoretischen Positionierung: Instruktiv sind Buchers differenzierte Referate zweier zentraler Paradigmen der Praktischen Theologie: des "handlungswissenschaftlichen" Ansatzes (27-?42) und des Vorgehens der "Empirischen Theologie" (43-?68). Dem wesentlich von J. Habermas' Kommunikationstheorie inspirierten Paradigma einer handlungswissenschaftlichen Pastoraltheologie hält Bucher ihre gegenüber Alterität unsensible Konsensorientierung entgegen. Diese neigt dazu, das Fremde samt seines Irritations- wie Inspirationspotenzials entweder zu vereinnahmen oder als defizitär anzusehen: "Orientiert am Modell kommunikativen und verständigungsorientierten Handelns als Idealform des Handelns überhaupt, erscheint das Andere, das Fremde, das Neue, das Unverständliche […] dann vor allem als etwas, dem etwas fehlt." (41) Die insbesondere vom Niederländer J. A. van der Ven entworfene Empirische Theologie tritt aus dem kirchlichen Binnenraum heraus und richtet ihren empirisch geschulten Blick auf "die gesamte heutige religiöse Praxis in Kirche und Gesellschaft" (55). Zwar begrüßt Bucher diese ekklesiale Entgrenzung, kritisiert jedoch eine damit einhergehende Ausblendung: In der Fokussierung auf religiöse Phänomene treten die nicht religiösen Zeichen der Zeit aus der theologischen Wahrnehmung heraus, obwohl sie aus Sicht einer am ganzen Menschen interessierten Theologie und Pastoral von zentralem Belang sind (vgl. GS 1 u. 4). So eliminiert auch die Empirische Theologie auf ihre Weise das irritierende und inspirierende Fremde des Nicht-Religiösen. Zum Stil kenotischer, "sich entäußernder" Theologie gehört es jedoch gerade, sich dem Außen, Fremden, Nicht-Eigenen auszusetzen. Erhellend sind ebenso Buchers Analysen zur gegenwärtigen Situation der Universität (69-91). Auch hier zeigt sich seine Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik, wenn er etwa die Ökonomisierung des Hochschulwesens treffend charakterisiert und die Universität zu einem "Wissens- und Absolvent/inn/en-Produktionsunternehmen" (75) verkommen sieht. Dabei müsste gerade die Universität ebenso wie die Kirche leisten, was Bucher wissenschaftstheoretisch postuliert: zu Selbstdistanz, Selbstreflexion und Selbstkritik anleiten, um zu pluralitätsfähigen Identitäten beizutragen: "Die Zukunft von Universität wie von Kirche wird gerade nicht mehr in ihrer Konzentration auf ihre Binnenräume liegen können, sondern abhängen vom Beitrag, den sie liefern können zur Klärung der Identitätsprobleme postmoderner Individuen in Zeiten realer, alltäglicher und immer auch prekärer Multikulturalität." (82) Im Gesamt des Buches kommt den letzten beiden Kapiteln eine entscheidende Bedeutung zu, da Bucher hier über kritische und skeptische Haltungen hinaus seine eigene Position konstruktiv entfaltet. Er empfiehlt der Pastoraltheologie das Profil einer "Kulturwissenschaft des Volkes Gottes" (190?-?202). Bei diesem Etikett hängt alles am verwendeten Kulturbegriff. Diesen will Bucher von seiner Emphase und normativen Aufladung - etwa im Sinne der "Hochkultur" - befreien. Er versteht in Anlehnung an den Soziologen D. Baecker darunter vielmehr einen "kritischen Selbstbeobachtungsbegriff" (195). Kultur soll vor allem in ihrer Heterogenität, Kulturwissenschaft in ihrer Kritikfähigkeit auch sich selbst gegenüber wahrgenommen werden: "Es geht um einen Kulturbegriff, ‚der auf Diskontinuität, Heterogenität und Differenz abstellt'" (201 mit Zitat von Baecker). Kulturwissenschaft bedient sich einer "Reflexivität, die auch sich selber nur sehr bedingt über den Weg traut" (Baecker, zit. n. 201). Schließlich verortet Bucher sein pastoraltheologisches Konzept in der eigenen kirchlichen Tradition (203?-?232). Die kenotische Ekklesiologie, die sich im II. Vatikanum Bahn bricht (LG 8, GS), muss auch auf die Theologie angewandt werden. Ähnlich wie die Kirche hat sich Pastoraltheologie selbst zu relativieren, Begrenztheiten ihres wissenschaftlichen Diskurses anzuerkennen: "Eine kenotische, also selbstentäußernd agierende Patoraltheologie muss sich von einem starken Wissenschaftsbegriff lösen und vielmehr die realen Leistungen des wissenschaftlichen Diskurses zu anderen diskursiven und nicht-diskursiven Handlungsformen nüchtern betrachten." (216) Konsequenterweise wird das Buch mit der Dokumentation einer pastoraltheologischen Diskussion beschlossen (233?-?246), in der es inhaltlich um die "Schwächen" des Faches geht und in der sich der Autor "kenotisch" zurückhält. Buchers Idee, ein Zentralmotiv der Christologie, die Kenosis, auf die Ebene der Wissenschaftstheorie zu überführen und als Theologiestil zu etablieren, überzeugt. Sie ließe sich ohne Zweifel auf andere theologische Fächer ausdehnen. Bescheidenheit und Selbstkritik stehen der Theologie insgesamt gut zu Gesicht, aus mehreren Gründen: angesichts ihrer zunehmenden gesellschaftlichen Marginalität, die nicht bloß zu bedauern, sondern im Bucher'schen Sinne eine Chance zur Neuausrichtung ist; angesichts der grundsätzlichen wissenschaftlichen Erkenntnis eigener Fallibilität; und nicht zuletzt angesichts ihres ureigenen Reflexionsgegenstandes, des jedem intellektuellen Bemühen in letzter Instanz enthobenen "immer größeren" Gottes. Theologisch-Praktische Quartalschrift 4/2013 Ansgar Kreutzer
Serie / Reihe: Praktische Theologie heute 105
Personen: Bucher, Rainer
Standort: HB W I
Pas 01.1 Buche
Bucher, Rainer ¬[Verfasser]:
Theologie im Risiko der Gegenwart : Studien zur kenotischen Existenz der Pastoraltheologie zwischen Universität, Kirche und Gesellschaft / Rainer Bucher. - Stuttgart : Kohlhammer, 2010. - 272 Seiten. - (Praktische Theologie heute; 105)
Einheitssacht.: Theologie im Risiko der Gegenwart
ISBN 978-3-17-021029-5 Broschur
Allgemein - Buch