„Es ist so weit. Ich höre sie. Da sind sie. Ich bin mir ganz sicher, gleich sind sie da.“ Ein drohender Unterton prägt jenen Satz, der gegen jede Erwartung nicht aus einem Thriller stammt, sondern aus dem neuesten Bilderbuch der Schweizer Illustratorin Albertine, die 2020 mit Hans-Christian-Andersen-Preis ausgezeichnet wurde. Sie präsentiert uns zu Beginn dieses – vor allem bei der ersten Lektüre – überraschenden literarischen Täuschungsmanövers (Achtung: diese Rezension ist nicht spoilerfrei!) eine erwachse Frau, die auf unbestimmtem Weißraum voller Anspannung den mysteriösen Herankommenden lauscht, die auf der folgenden Doppelseite als schwarze Schatten von Krallen, Rüsseln, Schwänzen, Hörnern visualisiert werden: „Wie viele sind es? Hundert? Tausend?“ Der Text von Slyvie Neeman gestaltet sich als Monolog einer Verängstigten, die Fragen über die nahende Meute stellt: „Ob ihre Augen Blitze schleudern können? Ob sie drei Meter hoch sind? Haben sie Buckel und Beulen?“ Wer oder was hier erwartet und imaginiert wird, bleibt im Text unbestimmt, wird aber im Bild mit großer Farblust ausgestaltet: Variierende Ideen von Ungeheuerlichen, die auf dem Weg sind zur nervösen Dame … Stutzig machen bei genauerer Betrachtung die bunt skizzierten Kulissen, die ein ganz und gar nicht grausames Metier vermuten lassen. Die scheinbaren Monster agieren nämlich auf Kuschelbett, Frühstückstisch und Bus, enttarnt werden sie auch durch ihre Accessoires: Ausstaffiert mit Luftballon, Skateboard und Lätzchen verlieren sie trotz Glubschaugen und Tentakel jeden Schrecken. Was die aufmerksamsten BetrachterInnen schon seit dem Schmutztitel geahnt haben (ich nicht!), wird schließlich mit der Ankunft der Bestien offenbart: Ist das eine Kindergarderobe? Und die junge Dame … eine Pädagogin? Und so fallen Albertines gewitzt fröhliche Bildästhetik und der deutungsreiche Text passgenau zusammen, bis nur noch die bunte Kleidung der Kinderschar an die einst monströse Imagination der Erzieherin oder Lehrerin erinnert. Ihr wird hier jene Nervosität vor „dem Ersten Tag“ zugestanden, die man normalerweise nur von den Kindern erwartet. Ein hervorragender Perspektivenwechsel, der wortwörtlich illustriert, wie sehr Angst, aber auch Vorfreude zur Übertreibung neigen lassen.
Personen: Ott, Bernadette Neeman, Albertine Sylvie
Mut Neema
Neeman, Albertine Sylvie:
Sie kommen / Albertine Sylvie Neeman. Aus dem Franz. von Bernadette Ott. - Hamburg : Aladin, 2020. - [17] Bl. : überw. Ill. (farb.)
ISBN 978-3-8489-0174-6 fest geb. . ca. € 15,50
Mut - Buch