Wenn man unsere Gesellschaft einmal den Nachfahren beschreiben sollte, dann reden wir am besten von einer Koch-Gesellschaft. An manchen Tagen scheint alles in der Wohnanlage zu kochen, auf den Flachbildschirmen lösen sich Rezepturen mit Starkochgesichtern ab und zwischendurch feiert man auf einem Kanal einen Abspeckler, der soeben eine Tonne Gewicht verloren hat und jetzt reif ist für die neue Koch-Gesellschaft, die vor allem eines ist, easy, oberflächlich, verbal ausufernd. Martin Suter vereinigt in seinem Roman "Der Koch" zwei scheinbar nicht zusammenpassende Welten: Die snobistische Küche für Schweizer Geld-Bonzen und den Kosmos tamilischer Widerstandskämpfer. Was wie ein Dutzendschicksal beginnt, zeigt aber bald, dass diese neue Koch-Welle nichts anderes ist als ein Bankgeschäft mit anderen Währungen. Statt Zinsen gibt es Gewürze, statt Börsenkurse Frischhaltedaten von Gemüse und statt einer Gewinnausschüttung einen Hormonschub zwischen Suppe und Hauptgericht. Der tamilische Asylwerber Maravan arbeitet als Boy für alles in der Küche eines Zürcher Nobelrestaurants. Obwohl er eigentlich der beste Koch wäre, schält er in der Hauptsache Gemüse oder sortiert die Teller in der Spülanlage. Eine aufregende Frau ist momentan im Service beschäftigt, alle sind hinter ihr her, aber sie lässt sich aus einer Laune heraus eines Abends privat von Maravan einkochen. Maravan entwendet wertvolle Küchengeräte und kocht ein erotisches Menü, das die coole Lady umhaut. Am nächsten Tag beneiden ihn alle um das Erlebnis, aber er wird gekündigt, weil er ja ungefragt die Küchengeräte ausgeborgt hat. Die erotische Kraft des Menüs lässt der Frau keine Ruhe, Andrea und Maravan gründen Love Food. Immer betuchtere Typen bedienen sich der Verführungskunst dieser Menüs und langsam verschmelzen Finanzwelt und tamilischer Widerstand. Denn längst ist die Tamilen-Mafia hinter Maravan her und verlangt unverschämte Schutzgelder. Die Banker und Waffenschieber hingegen hocken an Marvins Tellern und lassen sich geil werden, wenn sie ordentlich Waffen geschoben haben. So kann es durchaus passieren, dass ein in den Widerstand verschobener Panzer mit einem erregenden Menü hormonell begossen wird. Rückschläge und Offensivstrategien lösen einander auch bei Love Food ab. Die beteiligten Akteure gehen das sexuelle Fressen mit der gleichen Lust an, wie sie sich durch Konto-Auszüge schlecken oder sich an der Börse einen runterholen. Martin Suter schreibt mit dem Koch ein perfekt auf der Gesellschaft sitzendes Stück Perversionsgeschichte. Zwischen den einzelnen Gängen werden die Rituale der Highsociety entlarvt, gleichzeitig entströmt den Menüs ein Stück tamilischer Kulturgeschichte, wie wir sie in keiner Kriegsberichterstattung wiederfinden. Obligates Ende: Die diversen erotischen Menüs Marvins sind für den Eigengebrauch (Selbstbefriedigung?) der Leserschaft als Rezepte abgedruckt. Helmuth Schönauer
Personen: Suter, Martin
Suter
Suter, Martin:
¬Der¬ Koch : Roman / Martin Suter. - Zürich : Diogenes-Verl., 2010. - 311 S.
ISBN 978-3-257-06739-2 fest geb. : ca. Eur 22,60
Schöne Literatur - Buch