Ist der Samenspender, der die biologische Basis für die eigene Existenz gelegt hatte, tatsächlich ein Vater oder, wie Hollis meint, bloss ein Mensch, der von ihrer Zeugung profitiert [hatte], ohne auch nur ein Fitzelchen Verantwortung zu übernehmen? Sind zwei lesbische Frauen, die sich den gemeinsamen Kinderwunsch mit Hilfe einer Samenspende erfüllt haben, zu gleichen Teilen Mütter; auch wenn nur eine von beiden das Kind im Leib getragen hat? Und verstehen sich Milo und seine vier Halbgeschwister deshalb auf Anhieb, weil ihre Gene sie verbinden allen sozialisatorischen Unterschieden zum Trotz? Die Fragen, die Sarah N. Harvey und Natasha Friend in ihren Romanen aufwerfen, könnten sowohl Philosophie- als auch Biologie-, Soziologie-, Psychologie- oder Ethik-Seminare füllen, und zwar für jeweils mindestens zwei Semester. Ähnlich wie Texte um Adoptivkinder oder bei der Geburt getrennte Zwillinge verhandeln auch die Samenspender-Geschichten aktuelle Diskurse um die Bedeutung von Natur und Kultur in Identität, Familie und Gesellschaft. Für Harveys Harriet, kurz Harry, die bei ihrer alleinstehenden Mutter lebt, und für Friends Teenager-Figuren Hollis und Milo, die bei ihrem jeweiligen lesbischen Elternpaar aufwachsen, gewinnen diese Fragen aber ganz essentielle Relevanz; und zwar nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, zu dem sie sich von ihren Müttern abzunabeln und eigene Wege einzuschlagen beginnen. Die eigene Zukunft beginnt bei allen mit einem Blick in die Vergangenheit; die Öffnung nach außen bedingt den Blick nach innen. Nach dem gemeinsamen Startschuss allerdings vervielfältigen sich die eingeschlagenen Pfade exponentiell. Denn beide Autorinnen nutzen die spannende Suche der Protagonist_innen nach ihren Halbgeschwistern in allererster Linie für eine vielschichtige Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Identitäten und Familienkonzepten, die fast alle jenseits der heteronormativen Matrix liegen. Sie suchen so die gegenwärtigen Realitäten von Eineltern-, Patchwork- und Regenbogenfamilien nicht nur zu repräsentieren, sondern sezieren auch soziale Ausschlussmechanismen und thematisieren einschneidende Diskriminierungserfahrungen von Eltern wie Kindern. Interessanterweise sind die Mädchenfiguren beider Romane kaum an ihren Erzeugern interessiert, die in den Texten denn auch marginal bleiben. Die Begegnung mit ihren Halbgeschwistern stillt in ihnen aber eine tiefe Sehnsucht nach Verbundenheit. Milo hingegen vermisst in seinem Leben die Vaterfigur; die Suche nach dem Mann, der ihm die buschigen Locken und die vielen Allergien vererbt hat, besitzt für ihn identitätsstiftende Bedeutung. Entsprechend reserviert Friend relativ viel Raum für die Erkundung biologisch bedingter Gemeinsamkeit; Harvey dagegen ist an der Bedeutung biologischer Verwandtschaft nur soweit interessiert, als sie ihr viele weitere Formen der Zugehörigkeit und Affinität zur Seite stellt. Die einzelgängerische Harry wächst vor allem an ihrer Auseinandersetzung mit den Biografien und Erfahrungen unterschiedlichster Frauen aller Altersgruppen. Das verleiht dem Roman eine Tiefe, die Friends temporeich erzählter Geschichte zuweilen ein bisschen fehlt. Trotzdem bieten beide Romane nicht nur originelle Ansätze in ihrem Umgang mit Aspekten des Erwachsenwerdens; sie regen auch zu komplexen gesellschaftlichen Fragen an, die junge Menschen heute und in Zukunft massiv beschäftigen werden.
Altersempfehlung: ab 12 Jahren.
Personen: Harvey, Sarah N.
Harvey, Sarah N.:
Empfindliches Gleichgewicht : Roman / Sarah N. Harvey. Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther. - Deutsche Erstausgabe. - München : dtv, 2017. - 250 Seiten. - Aus dem Englischen übersetzt
ISBN 978-3-423-65028-1 kartoniert : EUR 14,95
Jugendbücher (bis 12 Jahre) - Signatur: Harve - Buch