Sonderlich musikalisch ist das Mädchen, das da vorn mit einem Mikrofon in der Kirche steht, nicht, das erkennt Sam sofort. Trotzdem ist er von ihr fasziniert, denn dieses Mädchen sieht nur ihn an und singt dabei Worte, auf die er sein ganzes Leben gewartet hat: "I'll be there to comfort you, built my world of dreams around you. I'm so glad that I found you. I'll be there with a love that's strong. I'll be your strength. I'll keep holding on." I'll be there - ich werde da sein. So lautet auch der Originaltitel des Romans, der meiner Meinung nach sehr viel besser passt, da diese wenigen Worte für die beiden Hauptpersonen eine so starke Bedeutung haben. Auch Emily ist sofort in Sams Bann gezogen und kann von diesem Moment in der Kirche nur noch an den ungewöhnlichen Jungen denken, der in der letzten Reihe saß und sie ohne auch nur ein Wort zu sagen sofort zu verstehen schien. Tagelang versucht sie herauszufinden, wer er ist, fragt die Leute in der Kirche, sucht ihn in der Schule, erkundigt sich beim Einwohnermeldeamt. Und endlich sieht sie ihn wieder und verabredet sich für den kommenden Abend mit ihm. Sam ist ganz anders als die Jungen, die Emily aus der Schule kennt. Er redet nicht die ganze Zeit über Videospiele oder Kinofilme, die er gut findet. Er prahlt nicht mit tollen Partys, die er veranstaltet, oder mit Alkoholexzessen mit seinen Kumpels. Stattdessen verabschiedet er sich mit einem Handkuss von ihr. Was Emily nicht weiß: Sam ist so anders, weil er auch ein vollkommen anderes Leben führt. Als er sieben Jahre alt war, packte der Vater ihn und seinen zweijährigen Bruder ins Auto und fuhr davon, weg von seiner Heimat, weg von der Mutter der beiden Jungen. Seit zehn Jahren fahren die drei in einem alten Laster von einer Stadt zur nächsten, der Vater hält sich mit Gaunereien aller Art über Wasser und ist froh, wenn er von Sam und Riddle möglichst wenig sieht und hört. Die Jungen gehen nicht zur Schule, niemand achtet darauf, dass der kleine Riddle in der Entwicklung zurückgeblieben ist, unter starkem Asthma leidet und mit seinen zwölf Jahren nicht einmal spricht, sondern den ganzen Tag über nur Bilder in ein altes Telefonbuch malt. Um sich und seinen Bruder zu ernähren, durchsucht Sam abends die Mülltonnen vor Imbissbuden oder hilft auf dem Schrottplatz aus, wo er für seine Bemühungen ein paar Münzen bekommt, die mit Glück auch noch reichen, um einmal im Monat die schmutzigen Kleider in den Waschsalon zu bringen. Als Sam Emily kennen und lieben lernt, wird alles nur noch komplizierter: Er kann sie nicht an seinem Leben teilhaben lassen, schämt sich für den Vater und das heruntergekommene Haus, indem sie momentan heimlich leben. Er hat kein Handy und kein Internet, ja nicht einmal das nötige Kleingeld, um eine Telefonzelle zu benutzen und sich bei ihr zu melden. Er behauptet, privat unterrichtet zu werden, was weitere Probleme gibt, als Emilys Eltern darauf bestehen, Sam solle auf die Musikschule gehen, an der der Vater unterrichtet. Schwierig, wenn man alte Zeugnisse, Einverständniserklärungen der Eltern und Arztberichte der letzten Jahre vorlegen soll und nichts davon besitzt. Hinzu kommt der launische, geistig gestörte Vater, der in seinen Söhnen Verräter sieht, als er erkennt, dass Sam sich heimlich mit einem Mädchen trifft und Riddle manchmal mit zu diesen Verabredungen nimmt. Sein Gewehr in der Hand beschließt er, für Ordnung zu sorgen… Die Autorin Holly Goldberg Sloan versteht es, komplizierte Sachverhalte mit schlichten Worten aus-zudrücken. Sie schreibt mit einer nüchternen Direktheit über das schwierige, traurige Leben, das Sam und sein kleiner Bruder seit Jahren führen, die den Leser oftmals schlucken lässt. Hier wird nichts beschönigt, sondern die Realität so dargestellt, wie sie tagtäglich passiert. Unweigerlich fragt man sich, wie viele Kinder es geben mag, die genau wie die Brüder ständig auf der Flucht sind, ein Leben im Verborgenen führen, keine Schule besuchen und keine Freunde finden können, da sie jedes Mal, wenn sie sich an einen Ort gewöhnt haben, weiterziehen. Als Leser schwankt man zwischen Mitleid und Bewunderung für Sam, der nicht nur sein Leben regeln muss, sondern zusätzlich auf seinen kleinen Bruder achtgibt, der ansonsten vollkommen hilflos wäre. Man wünscht Sam, dass er sich gegen seinen Vater und seine kriminellen Machenschaften stellen wird und endlich erkennt, dass das Leben, das er führt, keineswegs normal ist und dass er ein Recht auf Schulbildung, Freunde und ein Zuhause hat. Dadurch, dass die Geschichte aus sehr unterschiedlichen Perspektiven geschrieben ist (hauptsächlich aus Sams und Emilys, aber auch aus der von Emilys Eltern, von Sams Vater, von Riddle und anderen Figuren) bekommt man einen guten Überblick über die Handlung und ist den Figuren immer schon einen Schritt voraus, so dass man häufig ahnt, welch neues Unglück bald auf Emily und Sam zukommt und sich fragt, wie sie auch damit fertig werden wollen. Sam und Emily - Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls ist ein Buch, das den Leser zum Nachdenken über sich und andere anregt. Es zeigt das Leben mit all seinen Schwierigkeiten und Problemen, gibt aber mit der Liebesgeschichte zwischen zwei so unterschiedlichen Teenagern gleichzeitig Hoffnung darauf, dass ein gutes Herz oftmals mehr zählt als der soziale Status und dass niemandem durch seine Herkunft ein festes Schicksal vorherbestimmt ist.
Personen: Goldberg Sloan, Holly Ott, Bernadette Lehnerer, Barbara
Goldberg Sloan, Holly:
Sam und Emily : kleine Geschichte vom Glück des Zufalls / Holly Goldberg Sloan; Barbara Lehnerer; Bernadette Ott. - Würzburg : Arena, 2016. - 426 S. - aus dem Amerikanischen übersetzt
ISBN 978-3-401-50851-1 kart. : EUR 1,75
Belletristik - Signatur: Z Gold - Buch