Das Tagebuch einer Mittvierzigerin im Rom der Nachkriegszeit lässt das Eingesperrtsein in Konventionen und Rollenbildern offenbar werden. (DR) Valeria kauft aus einem Impuls heraus ein Notizbuch am Kiosk, wo am Sonntag nur Zeitungen verkauft werden dürfen. Das Verbotene dieser Handlung wird ihr zur Obsession und sie verheimlicht ihre Eintragungen vor der Familie: ihrem Mann Michele und den Kindern Riccardo und Mirella, die beide an der Universität studieren. Das verbotene Tagebuch wird gewissermaßen zur dritten Belastung neben der Haushaltsführung und ihrer Teilzeitanstellung in einem Büro. Dass sie überhaupt arbeiten muss, hält sie ihrem in der Bank zu wenig verdienenden Ehemann bei jeder Gelegenheit vor, gleichzeitig lebt sie als Assistentin des Firmendirektors auf, erfährt Wertschätzung und gesteht schließlich ihrem Tagebuch, dass sie in ihren Chef verliebt ist. Ihrer Tochter gegenüber fordert sie die Einhaltung moralischer Grundsätze, ihrer verarmten Aristokraten-Mutter gegenüber verteidigt sie das Leben, das sie führt, ihrem erzkonservativen Sohn kann sie keinen Wunsch abschlagen. Das verbotene Notizbuch wird zur Reflexionsfläche darüber, was sie sich insgeheim wünscht und was sie bereit ist zu verändern, außerdem dokumentiert sie detailreich die Konversationen in diesem Kammerspiel der Generationen. Es macht wenig aus, dass das Setting im Rom der späten 1940er Jahre hierzulande nicht allzu vertraut ist. Die Sprache des Tagebuchromans, die Zerrissenheit der Ich-Erzählerin und die gesellschaftspolitischen Obertöne in dieser Sinfonie der weiblichen Rollenbilder ergeben einen Lesegenuss, der auch heute noch berührt. Das Buch scheint geradezu prädestiniert dafür, es in Lesekreisen zu diskutieren mit Hinblick auf die Möglichkeiten von Frauen (damals und heute), aus ihren Rollen auszubrechen, Liebesbeziehungen neu zu leben, einen persönlichen Weg zu finden zwischen den eigenen moralischen Ansprüchen und der Suche nach Glück. In Italien ein Longseller ist es nach 70 Jahren endlich auf Deutsch erhältlich in einer Übersetzung, die den Charakter der Erzählerin mit gewählter Ausdrucksweise gut herüberbringt. Die Illustration am Buchcover ist einer italienischen Ausgabe entnommen und zeigt eine rauchende Dame, die einem Fellini-Film entsprungen sein könnte, was der Hauptfigur weniger entspricht.
Altersempfehlung: ab 18 Jahren.
Personen: Koskull, Verena von Céspedes, Alba de
Cespe
Céspedes, Alba de:
Das verbotene Notizbuch : Roman / Alba de Céspedes ; aus dem Italienischen von Verena von Koskull. - Berlin : Insel Verlag, 2021. - 302 Seiten
ISBN 978-3-458-17934-4 Festeinband : EUR 24,70 (AT)
Schöne Literatur - Buch