Das Trauma von Umerziehung und kultureller Enteignung – packender Roman über einen besonders dunklen Fleck in der Geschichte Schwedens. (DR) Diese Ungerechtigkeit: Wenn ein Staat die indigene Bevölkerung nicht akzeptieren will. Wenn Eltern sich gezwungen sehen, ihre Kinder zu deren »Besten« in ein Internat zu schicken. Wenn Kinder ihre Muttersprache nicht mehr sprechen dürfen, traditionelle Gesänge und Kleidung vergessen müssen. Dieses Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit – gegenüber den Behörden, gegenüber der Internatsleitung, auch gegenüber manchen anderen Kindern. In diesem Roman geht es um die Volksgruppe der Samen in Nordskandinavien. Was deren Kindern und ihren Eltern in den 1950er-Jahren zugemutet wurde, gilt wohl für viele ähnliche Umerziehungssysteme weltweit. Der Autorin, selbst eine gebürtige Sámi, ist dieses Schicksal erspart geblieben, aber die Erzählungen ihrer Mutter bilden den Hintergrund des Romans. Das Leben in der Nomadenschule ist hart und brutal und wird deutliche Spuren hinterlassen, dazu tragen auch Gemeinheiten innerhalb der Kinder bei. Weitaus am schlimmsten ist jedoch die despotische Hausmutter, die von allen gefürchtet wird; selbst Lehrkräfte und Betreuungspersonal ordnen sich ihrer Grausamkeit mehr oder weniger willig unter. Nur bei der Erzieherin Anna und der Köchin Lisbeth gibt es Trost und vorsichtiges Durchatmen. Dreißig Jahre später stehen die Zeichen der Zeit auf Änderung: Seit Jahrhunderten haben die Samen Rentiere gezüchtet, nun beäugen sie argwöhnisch jene Männer, die ihr Geld im Bergbau verdienen und in der Freizeit mit glänzend polierten Straßenkreuzern als »Cruiser« unterwegs sind. Die Kinder der 1950er-Jahre sind auch als Erwachsene gezeichnet, manche körperlich, alle seelisch. Mit unterschiedlichen Verhaltensweisen versuchen sie ihr Trauma zu überwinden. Die kinderlose Marge fragt sich entsetzt, ob sich ihr eigenes Schicksal wiederholt: Sie hat ein Mädchen aus einem kolumbianischen Kinderheim adoptiert, ohne zu bedenken, dass sich auch Estela/Stella einer neuen Kultur anpassen muss. Wie ihre frühere Klassenkollegin Ann-Risten arbeitet Marge als mobile Pflegekraft. Eines Tages bekommt sie eine neue Patientin zugewiesen: Sie erkennt die alte Frau auf den ersten Blick und bekommt Angst – weniger vor der noch immer bösartigen ehemaligen Hausmutter als vor sich selbst … Der Originaltitel »Straff« (Bestrafung) ist vielschichtig und überaus treffend, der Titel der deutschen Ausgabe das genaue Gegenteil. Ein Glossar im Anhang listet die wichtigsten Ausdrücke in samischer Sprache auf. – Eine Bereicherung für alle Bestände, breite Leseempfehlung!
Personen: Laestadius, Ann-Helén Barth, Maike Mißfeldt, Dagmar
Leseror. Aufstellung: Schöne Literatur
Laes
Laestadius, Ann-Helén:
Die Zeit im Sommerlicht : Roman / Ann-Helén Laestadius ; aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt. - Hamburg : Hoffmann und Campe, 2024. - 479 Seiten
ISBN 978-3-455-01708-3 Festeinband : 26,00 EUR
Schöne Literatur - Buch