Schuld und Vergebung im Angesicht einer zerstörten Natur. (DR) "Ein Apokalyptiker, der das Leben preist", so charakterisierte einst Marcel Reich-Ranicki den in Oberösterreich geborenen Schriftsteller Christoph Ransmayr. Mit seinem neuesten Roman bestätigt der Autor dieses Diktum. Er entwirft eine dystopische Welt im 22. Jahrhundert. Durch den Klimawandel ist viel Land zur Wüste ausgedörrt, während die Küstengegenden überflutet sind. Sauberes Wasser ist dennoch so knapp, dass deswegen Kriege geführt werden wie früher um Erdöl. Europa ist in einander bekämpfende Kleinstaaten zerfallen. Ein aggressiver Nationalismus, der alles Fremde ablehnt, ist die herrschende Ideologie. Vor diesem Hintergrund erzählt Ransmayr vom Auseinanderbrechen einer Familie. Der Ich-Erzähler ist als Wasserbauingenieur "systemrelevant". Seine privilegierte Position hilft ihm aber wenig, als er sich immer tiefer in emotionale Wirren verstrickt: Wie geht es seiner Mutter, die im Zuge einer Säuberung auf ihre adriatische Heimatinsel deportiert worden ist? Ist sein verschollener Vater, der Fallmeister vom Weißen Fluß, ein Mörder? Und was wird aus der inzestuösen Beziehung des Protagonisten zu seiner Schwester, seit diese mit einem anderen Mann zusammenlebt? Das befremdliche und zugleich faszinierende Lektüreerlebnis, das dieser Roman auslöst, ist typisch für Ransmayrs Werke. In gediegener, altmeisterlich anmutender Sprache wird Entsetzliches geschildert. Die pessimistische Zukunftsvision ist freilich nichts als die konsequente Fortsetzung gegenwärtiger Entwicklungstendenzen. Auch auf die Coronakrise wird angespielt. Was den Autor aber vor allem zum Schreiben treibt, ist die Frage nach der Bestie im Menschen. Wie viel Barbarei lauert unter der dünnen Tünche der Zivilisation? Dabei geht es oft nicht einmal ums Überleben, sondern nur um rücksichtslose Gier. Der Roman blickt zwar in Abgründe, doch in all der Düsternis leuchten Liebe, Vergebung und Versöhnung umso heller und kostbarer. Eine über den engsten Kreis hinausgehende Handlungsperspektive tut sich nicht auf, doch dem Erzähler scheint der Rückzug ins Private einen Ausweg aus dem Teufelskreis von Naturzerstörung, Gewalt und Katastrophen zu ermöglichen.
Personen: Ransmayr, Christoph
Ransmayr, Christoph:
¬Der¬ Fallmeister : eine kurze Geschichte vom Töten ; Roman / Christoph Ransmayr. - Frankfurt a. M. : S. Fischer, 2021. - 224 S.
ISBN 978-3-10-002288-2 fest geb. : ca. EUR 22,70
DD - Signatur: DD Ran - Belletristik