Handke, Peter
Die Obstdiebin oder einfache Fahrt ins Landesinnere
Belletristik

Um ihre Mutter wiederzusehen, begibt sich eine junge Frau auf eine mythisch anmutende Heldenreise. (DR) Seit langem irrlichtert die Gestalt der Obstdiebin wie ein Phantom durch Peter Handkes Texte. Seit langem auch hat der mittlerweile 75-jährige Autor ein "Letztes Epos" angekündigt, mit ihr als Titelfigur. Dass das nun vorliegende neue Erzählwerk sein letztes sein sollte, davon ist freilich keine Rede mehr. Heißt sie nun wirklich Alexia, oder spielt der Autor nur mit den Wünschen seines Publikums, das wissen möchte, wie die Protagonistin heißt? Was heißt überhaupt "wirklich" in einem fiktionalen Zusammenhang? Meist wird sie nur die "Obstdiebin" genannt. Wie die meisten Hauptfiguren in Handkes großen Epen bricht sie zu einer Reise auf und legt dabei weite Strecken zu Fuß zurück. Sie möchte ihre Mutter aufsuchen, von der sie ein Jahr lang getrennt war. Wer mit Handkes Oeuvre vertraut ist, erkennt in dieser Mutter die Heldin aus dem Opus "Der Bildverlust" (2002), die "Bankfrau" mit dem verschollenen Kind. Die Reise dauert diesmal zwar nur drei Tage und führt über kaum mehr als 50 Kilometer Luftlinie von Paris in die Picardie, doch sie wird zu einer Aventüre, wie sie die Helden der mittelalterlichen Ritterepen zu bestehen hatten, voll zeichenhafter Begegnungen und Herausforderungen. Wie oft bei Handke gibt es eine Menge offener und versteckter Anspielungen auf Wolfram von Eschenbachs "Parzival". Aber auch die Bibel wird immer wieder als Referenztext bemüht, nicht nur die für eine Obstdiebin naheliegende Geschichte von der verbotenen Frucht im Paradies, sondern auch das Buch Jona aus dem Alten Testament. Handke geht auf Distanz zu dem misanthropischen Propheten, der sich auf den Untergang Ninives freute und mit Gott haderte, weil dieser die Stadt verschonte. Darin mag auch ein Stück Selbstkritik des Autors stecken. Die Obstdiebin ist jung, mutig, körperlich fit und selbstverständlich schön. Nur ein bösartiges Kritikerhirn käme auf die Idee, sie als Altherrenphantasie abzustempeln. Dass sie gewohnheitsmäßig gärtnerische Erzeugnisse stiehlt, nimmt ihr der Ich-Erzähler, der viel mit dem Autor gemeinsam hat, nicht übel, im Gegenteil. Mehr noch, er verzeiht ihr sogar, dass sie, wie die meisten ihrer Generation, sehr routiniert ihr Mobiltelefon handhabt. Dieses Detail dürfte den gar nicht technikaffinen Handke einiges an Überwindung gekostet haben. So einzigartig sich die Heldin als Individuum präsentiert, allein fühlt sie sich dennoch nicht. Sie traut sich zu (und auch ihr Autor scheint es ihr zuzutrauen), mit "ihresgleichen" eine utopische "ganz andere Gesellschaft" zu bilden und die von Katastrophen bedrohte Welt zu retten. Damit steht sie in einer Reihe mit den vielen schönen, jungen Hoffnungsträgerinnen und Heilsbringerinnen, die Handkes Werke bevölkern. Sie ist aber die erste, die nicht nur als "Dea ex machina" auftritt, sondern es zur Hauptfigur eines epischen Großwerks gebracht hat.


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Personen: Handke, Peter

Handke, Peter:
¬Die¬ Obstdiebin oder einfache Fahrt ins Landesinnere / Peter Handke. - Berlin : Suhrkamp, 2017. - 558 S.
ISBN 978-3-518-42757-6 fest geb. : ca. EUR 35,00

Zugangsnummer: 0019674001 - Barcode: 2-0000000-8-00015638-7
DDD - Signatur: DDD Han - Belletristik