Im Jahre 1516 schrieb Thomas Morus einen Roman mit dem Titel "Utopia" über seine Vor-stellungen eines idealen Staates. Seitdem benennt man alle ähnlichen Vorstellungen mit diesem Titel. Und es gab viele Versuche, ernst-gemeinte und satirische, ein solches Staatswesen zu beschreiben, zu konstruieren und manchmal auch einzufordern. Manchmal wurden die entsprechenden Bücher auch geschrieben, um vor - nach Meinung des Verfassers - falschen Entwicklungen und drohenden Katastrophen zu warnen. Berühmtes Beispiel dafür ist George Orwells 1948 geschriebene Zukunftswarnung "1984", deren erschreckende Perspektiven glücklicherweise sich auch heute noch nicht bewahrheitet haben, auch wenn manche Tendenzen durchaus in die dort beschriebene Richtung zielen. Vor mir liegt nun also eine neue "Utopie", eine Schilderung einer Welt, die der uns bekannten nach Anlage der Geschichte irgendwann folgen soll und deren Absicht es ist bzw. sein soll, Fehler und Mängel unserer Welt zu vermeiden oder zu korrigieren. Doch ich greife vor. Es beginnt mit der Geschichte eines Mädchens, Cassia, deren 17. Geburtstag besonders aufregend verläuft: Sie erfährt, wer ihr zukünftiger Lebenspartner sein wird. Das ist in Cassias "Gesellschaft" (und so nennt sich das ganze Staatswesen) so üblich, wird nach streng wissenschaftlichen Kriterien computerunterstützt bestimmt und dient der bestmöglichen "Verpaarung" im Hinblick auf genetische Gesundheit und übereinstimmende Persönlichkeitsmerkmale. Doch in Cassias Fall passieren zwei ungewöhnliche Dinge: Sie kennt ihren "Zukünftigen" bereits, er ist ein Freund von Kindheit an, was fast nie vorgesehen ist - und der Mikrochip mit den Details ihres Partners präsentiert versehentlich einen Anderen im Bild. Auch den kennt Cassia bereits, es ist der Nachbarsjunge Ky. Als die allgegenwärtigen Funktionäre versuchen, den Irrtum zu erklären und die Dinge wieder in die offizielle Spur zurückzuleiten, erfährt Cassia, dass Ky gar nicht verpaart werden dürfte, weil er als "Aberration" gilt, der sich nicht fortpflanzen darf. Der Grund ist weder biologisch noch persönlich von Ky zu verantworten, es ist Teil einer Sippenhaftung, weil seine Eltern in irgendetwas politisch Unkorrektes verstrickt waren und ums Leben kamen. Der Fortgang der Geschichte spielt sich nun vor dem Hintergrund der Zerrissenheit Cassias ab. Einerseits liebt sie ihren vorgesehenen Partner Xander durchaus, hielte ihn im Normal-fall sogar für ihren Traumpartner. Andererseits ist dies eben kein Normalfall, denn die theoretische Möglichkeit einer Wahl hat sie dazu gebracht, sich in Ky zu verlieben und sich mehr und mehr mit ihm und seiner Geschichte zu beschäftigen. Und hier kommen die Regeln und Richtlinien der Gesellschaft, in der die Beiden leben, ins Spiel. Denn es gilt als ungehörig, sich für andere Menschen und für deren Vergangenheit zu interessieren. Und es gibt ganz sicher keine freie Auswahl des Einzelnen, wie, wo und mit wem er oder sie lebt. Alles ist geregelt, ja vorgeschrieben, alles wird überwacht und alles ist "perfekt", so, wie eine zentralistische Planung eben Dinge für perfekt erachtet. Das gab es schon öfter in der Geschichte und hat niemals auf längere Sicht funktioniert - und das tut es auch hier nicht. Und so kommt es, wie es wohl immer kommen muss: Der Versuch, Menschen "gleich" zu machen, ihre eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ideen einer idealisierten Perfektion unterzuordnen und an ihre Stelle "Bedarf, Planung und Optimierung" zu setzen, funktioniert mit einer angepassten Masse, aber einzelne, denkende Individuen brechen aus dem System aus. Und lange Zeit gewinnt bei dieser Konfrontation das "System", indem es droht, therapiert und kontrolliert. Das alles ist mehr als nur packend geschildert, entwickelt sich wie das System selbst, anfangs fast unmerklich, einhüllend und einlullend, spontan manchmal positiv beeindruckend, später aber mehr und mehr beengend, Luft abschnürend und Angst verbreitend. Die zu Beginn nur ungewohnte und fremde Welt, in der sich die Geschichte abspielt, lässt auf Faszi-nation sehr schnell Ekel und Widerwillen folgen, nimmt in vielfacher Hinsicht "gefangen". Das ist große Schreibkunst und vor allem der detailreichen, mosaikähnlichen Anlage kleiner Einzelstränge geschuldet, die allmählich das große Muster erkennen lassen, als es zur "Flucht" längst zu spät ist. Da geht es Cassia wie den Lesern, der Sog ist einfach zu stark. Am Ende des Buches gibt es keinen wirklichen Schluss, die bisherigen Kapitel schließen sich, doch eine Weiterentwicklung bleibt offen. Und auf der Coverrückseite findet sich ja dann auch der Verlagshinweis, dass es sich um den ersten Band einer geplanten Reihe handelt. Man darf gespannt sein, ob der Autorin die Beibehaltung des hohen Niveaus dieses Bandes gelingt, der jedenfalls hat alles, was ein großer Wurf braucht: interessante Charaktere, vielschichtige Erzählebenen und eine raffiniert angelegte Welt voller "Angelhaken" für Verstand und Gefühl. Ausgezeichnet! *Alliteratus* Bernhard Hubner
Rezension
Personen: Condie, Ally Schäfer, Stefanie
Condie, Ally:
Die Auswahl : Cassia & Ky; Roman / Ally Condie. Aus dem Amerikan. von Stefanie Schäfer. - Frankfurt a. M. : FJB, 2011. - 452 S. - Aus dem Amerikan.
ISBN 978-3-8414-2119-7
Romane, Erzählungen und Novellen für Jugendliche - Signatur: DR.J Cond - Buch