"Eine unkontrollierte Reise durch die Zeit kündigt sich in der Regel einige Minuten, manchmal auch Stunden oder sogar Tage vorher durch Schwindelgefühl in Kopf, Magen und/oder in den Beinen an. Der erste Zeitsprung - auch Initiationssprung genannt - findet zwischen dem 16. und 17. Lebensjahr des Gen-Trägers statt" - so zu lesen in den Chroniken der Wächter, Band 2 mit dem Titel "Allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten", mit deren Hinweisen und Beobachtungen jedes Kapitel eingeleitet wird. Und so beginnt dann auch die Geschichte, die Gwendolyn in Ich-Form erzählt. Zu Beginn sitzt sie mit der Familie wartend da, dass es Charlotte endlich schwindelig wird. Erste Anzeichen dafür sind vorhanden, auch wenn sich schnell herausstellt, dass es damit so ähnlich wie mit einer Scheinschwangerschaft ist. Vorläufig aber warten erst einmal alle darauf, dass Charlotte den ersten großen Zeitsprung tun wird, der sich scheinbar ankündigt. Schließlich wurde sie sozusagen von Geburt an auf diesen großen Tag vorbereitet. Gwendolyn weiß zwar um diese Geschichten, doch so richtig interessiert haben sie sie nie, dafür findet sie Charlotte viel zu zickig und arrogant. Es ist nicht nur die überschäumende Fantasie der Autorin, die das Buch so lesenswert macht, sondern die Darstellung ihrer starken Mädchenfiguren. Sie schlüpft förmlich in die Rolle ihrer erdachten Gestalten, beschreibt, kommentiert, hinterfragt mit deren Verständnis das Geschehen, tritt als Erzählerin ganz hinter den Figuren zurück und sieht die Welt mit deren Augen, schafft so einen mehr als flotten Handlungsfluss rund um weitere Themen, die Heranwachsende interessieren: Selbstfindung und Selbstbehauptung, Konflikte in der Familie, die Suche nach Vorbildern, das erste Verliebtsein. Aber im Mittelpunkt steht doch die köstliche Geschichte rund um das Zeitreisen, das hier nicht einer Maschine oder genialen Erfindung verdankt wird, sondern einem speziellen Gen, das in der Familie vererbt wird. Viel mehr weiß Gwendolyn auch nicht, aber sie wird sich dafür interessieren müssen, da der Schwindel nämlich ganz unverhofft sie befällt - und nicht Charlotte! Und bald stellt sich heraus, dass ihre besorgte couragierte Mutter bei der Geburt der Tochter diese hatte behüten wollen und mit dem Tag der Geburt ein wenig mogelte, um der Prophezeiung zu entgehen. So aber sind Charlotte und Gwendolyn am gleichen Tag geboren, und die Falsche wurde darauf vorbereitet! Nun tut Eile Not, denn die Zeitsprünge verlaufen gerade am Anfang unkontrolliert und sind nicht ungefährlich. Nur langsam erschließt sich Gwendolyn, was es nun wirklich heißt, Trägerin des Gens zu sein und was auf sie zukommt. Eine fantasievolle Geschichte entfaltet sich mit unerhörten Motiven, unverbraucht, genialisch gemischt. Kerstin Gier, die von nun an in der Zeit springt, erzählt die Geschichte eines Geheimbundes, der Loge des Grafen von Saint Germain, die sich mit alten Mythen und der Zeit beschäftigt. Die Mitglieder überwachen die bislang gefundenen 11 Zeitreisenden, denen nun Gwendolyn als zwölfte und letzte angehören wird, als "Rubin", da jeder der Zwölf einem Edelstein zugeordnet ist. Im Mittelpunkt der Zeitreisen steht der Chronograph, ein Gerät, das nicht aus der Jetztzeit entfernt werden darf, wenn der Zeitreisende wieder in die Gegenwart zurückkehren will. Wer ihn mitnimmt, muss für immer in der fremden Zeit bleiben - eine (gewollte?) Erfahrung von Gwendolyns Tante Lucy und deren Freund, die sich nun rückschauend auch dem Mädchen erschließt. Lucy hatte nämlich den Chronographen in ihre Gewalt gebracht und mit in die Vergangenheit genommen um zu verhindern, dass sich der Blutkreislauf der zwölf Zeitreisenden schließt und die Mission, ein bestimmtes Geheimnis zu lüften, erfüllt werden kann. Viele Fragen bleiben offen, bei anderen deutet sich die Weiterentwicklung bereits an, so etwa die zarte Liebesgeschichte zwischen Gwendolyn und Gideon, den sie eigentlich überhaupt nicht leiden mag. Unklar aber bleibt weiterhin, worauf die Geschichte eigentlich hinausläuft, welche Rolle der Chronograph spielt, auf welcher Seite Lucy und ihr Freund Paul stehen, worin der Sinn des geschlossenen Blutkreislaufs liegt. Gut und Böse, Licht und Dunkel sind kaum auszumachen und voneinander zu unterscheiden. Das weckt Spannung auf die folgenden Bände, denn "Rubinrot" ist der erste Band einer geplanten Trilogie. Bleibt zu hoffen, dass es Kerstin Gier gelingt, weiterhin so originell, spritzig, überzeugend und lebensnah zu erzählen, mit einem neuen Feuerwerk amüsant-intelligenter Ideen! *Alliteratus* Astrid van Nahl
Rezension
Personen: Gier, Kerstin
Gier, Kerstin:
Rubinrot : Liebe geht durch alle Zeiten / Kerstin Gier. - 1. Aufl. - Wien : Arena, 2009. - 345 S.
ISBN 978-3-401-06334-8
Kindermedien: Erzählungen und Romane - Signatur: JE Gier - Buch