Auf Besuch beim deutschen Geist Zu Daniel Kehlmanns neuem Roman "Die Vermessung der Welt" Das ist ein sehr, sehr gutes Buch, Kehlmann ein brillanter Erzähler. Dabei scheint sein Stoff wenig abenteuerhaltig: die Lebensläufe der beiden deutschen Wissenschaftler Alexander von Humboldt (1769-1859) und Carl Friedrich Gauß (1777-1855). Humboldt war vor allem Naturforscher, der von einem 5jährigen Aufenthalt in Mittel- und Südamerika gewaltige Mengen neuer Kenntnisse und Erkenntnisse mitbrachte, von der Navigation bis zur Botanik. Gauß war Mathematikgenie, der die Arithmetik grundlegte, aber auch als Physiker (vor allem in der Astronomie) und als Techniker bahnbrechend wurde. Vielleicht ist das die Konstante in Kehlmanns (bisher 5) Romanen: Das große Abenteuer ist die Welt, nicht das Ich. Immer schon ist er gerne auf wissenschaftlichen Bahnen in die Welt hinausgefahren, aber nie endete das Abenteuer mit den Ergebnissen der Wissenschaft, sondern fand dort statt, wo die Welt, von der Wissenschaft gerne ins Lot gebracht, leise ins Schwanken geriet. Wissenserwerb ist Abenteuer, und Wissensverlust ist Abenteuer. Damit hat auch der vorliegende Roman zu tun. Kehlmann ist Abenteuer-Schriftsteller, einer der wenigen heute in der deutschsprachigen Literatur. Orinoko und Amazonas vor 200 Jahren haben aufgelegte Abenteuerlichkeit, aber das größere Abenteuer des Buchs ist die deutsche Geistesgeschichte. Schnell dazugesagt gehört, dass kein Winkel der Erde so spannend ist, wie wenn gut von ihm erzählt wird. Kehlmanns erzählerische Kompetenz macht auch die Primzahlen spannend oder die Kopfläuse der Indianerfrauen. Außerdem enthält jedes vermessene Detail souverän das Ganze: nicht unbedingt die Welt, aber doch die psychische Verfasstheit des Vermessers und die kulturelle Verfasstheit der Epoche. Der distanziert-ironische Blick (Personen werden z. B. nur im Konjunktiv der indirekten Rede zitiert) auf die Wissenschaft von Primzahlen und Kopfläusen macht dann den Abenteuerroman auch zu einem witzig kulturkritischen Roman. Er enthält ein paar köstliche Satiren. Kulturkritik: Der deutsche Geist der Aufklärung wird im Alltag seiner Heroen besucht, der Idealismus in deren Psychologie. Es genügt, die Geistesgrößen außerhalb ihres Werks zu zeigen, und die Denkmäler schrumpfen zu Gartenzwergen. (Das betrifft am Rande der Erzählung auch Kant und Goethe.) Kehlmanns Roman ist allerdings eines jener Bücher, deren Qualität von solchen Kurzbeschreibungen grundsätzlich verfehlt wird. Die Demontage klassischer Helden ist üblicherweise ein plumpes Verfahren der Volksbelustigung. Kehlmanns Roman ist ein feinsinniges Buch, das sein Auslangen nicht im Vergnügen an der Entheroisierung findet, sondern das seriöse Kulturkritik zum Vergnügen macht. Von Mutter Humboldt befragt, wie sie ihre beiden vielversprechenden Knäblein ausbilden solle, antwortet Goethe: "Ein Brüderpaar (…), in welchem sich so recht die Vielfalt menschlicher Bestrebungen ausdrücke, wo also die reichen Möglichkeiten zu Tat und Genuß auf das vorbildlichste Wirklichkeit geworden, das sei in der Tat ein Schauspiel, angetan, den Sinn mit Hoffnung und den Geist mit mancherlei Überlegung zu erfüllen." Das ist stilistisch ein perfekter Goethe-Satz. Wenn er authentisch wäre, wäre seine atemberaubende Leere eventuell eine beschämende Selbstentlarvung von Goethes großer klassischer Sprachgestik. Aber der Satz ist erfunden (in diesem Fall konnte ich mich erkundigen); ist jene feine Infamie des Autors, die sich vielleicht erst im Gesamtkonzept des Romans rechtfertigt: der Kritik an einem klassischen Idealismus/Humanismus - und an seinen großen Worten -, dessen Menschenbild unsere öffentliche Kultur weiterhin weithin dominiert, obwohl es historisch nachhaltig falsifiziert wurde und täglich im Fernsehen falsifiziert wird. Gegen die Idealismuspraxis, die Denkmäler mit den Menschen zu verwechseln, darf man Denkmäler zu Menschen rückformen und zeigen, über welchen menschlichen Gegebenheiten die klassische Philosophie vom Menschen gebaut ist. Die Rückformung der Heroen Humboldt und Gauß auf banale Menschenmaße erfolgt im Übrigen nicht nur zum Zweck ihrer Denunziation. Wenn ihnen der Denkmalschutz auch entzogen wird, wenigstens Menschen dürfen sie schließlich bleiben, spätestens wenn Kehlmann ihnen etwas von der Tragik des Alterns und der Entmachtung gönnt. Das rettet die Figuren auch vor der Karikatur. Die vielleicht schönste Qualität in Kehlmanns Erzählweise ist seine Dezenz. Er bleibt strikt und lakonisch bei der Erscheinungsweise der Dinge, ohne irgendwo ihr Wesen anzubohren. Die Kunst besteht dann darin, die (spärlichen) Mitteilungen über die Oberfläche so zu wählen, dass die Phänomene ihre Herkunft freigeben, ohne ihrer Intimität beraubt worden zu sein. So macht man Porträts mit wenigen Strichen. (Nur ganz kurz einmal schien mir Kehlmanns Lakonie die Geschichte zu sehr mittels Pointen weiterzutransportieren.) Diese Dezenz am Phänomen hinterlässt beim Leser die angenehme Illusion, Menschen selbst entdecken zu können, statt vor die fertige Entdeckung gesetzt worden zu sein; Erkenntnisse zu entwickeln, die nicht schon vom Autor präjudiziert sind. (Handke sollte mal Kehlmann lesen, damit er sieht, wie man poetisch praktiziert, was er poetologisch propagiert; auch Raoul Schrott, unserem anderen Poetizisten, ist Kehlmanns Humboldt-Reise zu empfehlen, zur Ausnüchterung seines poetischen Exklusivtourismus.) Wir begleiten Humboldt und Gauß von Kindesbeinen an bis ins hohe Alter. Mit Humboldt fahren wir in den südamerikanischen Dschungel. Angesichts weiblicher Nacktheit "missfiel es Humboldt zu sehen, an wie vielen Stellen Frauen behaart waren". Eigene (zumindest heterosexuelle) Impotenz deckt er mit der humanistischen Moralformel: "Der Mensch ist kein Tier." Diese spezielle Dummheit des klassischen Humanismus erhält er sich bis ins hohe Alter, wenn er dozieren darf, dass die größte Beleidigung des Menschen die Idee sei, dass er vom Affen abstamme. Ähnliches erfährt man auch von Gauß: "Das Körperliche (…) sei wahrhaft die Quelle aller Erniedrigung." Humanismus wird zur Wirklichkeitsverweigerung, die Welt wird erforscht in einer Verfassung völliger Weltfremdheit: Das Opfer einer Vergewaltigung legt Humboldt sich als Opfer der großen Hitze zurecht, und 20.000 religiöse Opferungen in Mexiko "widerlegt" er mit der Logik dieses Humanismus: "Die Ordnung der Welt vertrüge derlei nicht. Wenn so etwas wirklich geschähe, würde das Universum enden." Es ist Kulturkritik, wenn man eine Kultur beschreibt, die Exemplare von solcher menschlicher Inkompetenz als ihre Geisteshelden feiert; genauer: es ist Humanismuskritik, wenn der Humanismus seine Helden bloß als die des Geistes definiert. Schnell und nachhaltig hat Humboldt gelernt, seine sozialen Unfähigkeiten mit den gesellschaftlichen Konventionen dieses höheren Menschentums zu bemänteln: Das im Grunde mörderische Verhältnis der Brüder Alexander und Wilhelm z. B. bekommt einvernehmlich so die undurchdringliche Fassade erhabener Humanität. Mit Gauß bleiben wir zu Hause in Deutschland, weil er Reisen hasst. Hier demütigt er in seinem menschenverachtenden Intelligenzdünkel sein Leben lang seinen Sohn Eugen. Er ist ein Abstraktionsmonster, das weder seine Kinder noch den napoleonischen Krieg bemerkt. Er übersieht die Wirklichkeit zugunsten ihrer Kausalgesetze. Eines davon notiert er in der Hochzeitsnacht, als er gerade erstmals an den Schenkeln seiner Frau ist. Natur, bevor sie zu Zahlen geworden ist, irritiert ihn. "Die Sonne kam ihm zu hell vor, und die Pflanzen beunruhigten ihn." Auf seiner Russlandreise diagnostiziert Humboldt einen Stein, den ihm ein Jugendlicher zeigt, als Diamanten. Man bewundert die diagnostische Meisterleistung: "Nur wenige Wochen im Land und schon den ersten Diamanten Russlands gefunden." Als Humboldt abwehrt, er habe den Stein ja nicht gefunden, sondern bloß erkannt, rät ihm sein deutscher Begleiter, diese Richtigstellung nicht zu veröffentlichen. "Es gebe eine oberflächliche Wahrheit und eine tiefere, gerade als Deutscher wisse man das." Das ist die schärfste Spitze gegen den deutschen Tiefsinn. Die Nichtanerkennung der Fakten zugunsten der "Wahrheit" wird hier einfach zur Methode des Lügens. Eugen, der Sohn von Gauß, ist die wichtigste Kontrast- und Alternativfigur des Buches. Ihm gehört das letzte Kapitel. Auch er fährt, wie seinerzeit Humboldt, nach Amerika, allerdings ins Exil, aus politischen Gründen von Preußens despotischem Regime verurteilt, in das Gauß und Humboldt reibungslos passen. Als man, wie Humboldt, in Teneriffa zwischenlanden muss, lehnt er sich in einem Garten an einen imposanten uralten Baum, denselben, an dem auch Humboldt gewesen war, schließt die Augen und genießt den Schatten. Das ist der andere Umgang mit Natur. Humboldts Glück hatte darin bestanden, Namen und Alter des Baumes zu wissen (Drachenbaum, Jahrtausende). Eugens Glück besteht im Erleben. Zwei sozial- und humandefekte Abstraktionsgenies vertreten den deutschen Geist ihrer Zeit. Kehlmann (halber Deutscher, von seiner Mutter her) legt eine dezent-ironische Abrechnung mit diesem Geist vor, der sich vielleicht in besonderem Ausmaß den Blick hinter die Dinge als Kulturleistung gutschreibt und ihm entsprechend bereitwilliger den Blick auf die Dinge opfert. Am konkreten lebenden, leidenden Menschen sind beide Helden nicht interessiert. Hinter dem menschenfreien Rationalismus der Wissenschaftler, der die Welt kaltstellt durch Begriff und Zahl, macht Kehlmann in Andeutungen auch eine seiner historischen Folgen greifbar: die kalkulierte Ausbeutung des Menschen und der Natur ab dem 19. Jahrhundert. Die vorgenommene "Vermessung der Welt" wird im Verlauf des Buches und aus mehreren Gründen ein immer fragwürdigeres Unternehmen. *LuK* Helmut Gollner
Personen: Kehlmann, Daniel
DR
KEH
Kehlmann, Daniel:
¬Die¬ Vermessung der Welt / Daniel Kehlmann. - Reinbek : Hamburg, 2005. - 302 S.
ISBN 3-498-03528-2 fest geb. : ca. Eur 20,50
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