Von verlorenen Wörtern, dem Zurückerobern der Sprache und der Welt. (DR) Helene Wesendahl wacht nach einer Hirnblutung halbseitig gelähmt im Krankenhaus auf, die rechte Hand reagiert nicht, die Wörter sind im Nebel des Gehirns verborgen, nicht greifbar. Was klappert da? Warum fällt es so schwer, die Augen zu öffnen? Und warum heult das Mädchen - ihre Tochter? Und wo ist sie überhaupt? Ganz nah ist der Leser bei der Protagonistin, die sich die Umgebung, ja die Welt und mit ihr auch die eigene Vergangenheit, erst wieder aus Versatzstücken zusammensetzen muss. Die eigenen Kinder sind ihr fremd und warum kann sie ihre Gefühle für Matthes, ihren Ehemann, der sich so aufmerksam um sie kümmert, nicht einordnen? Die Zeit vor dem Platzen des Aneurysmas ist im Dunkeln, wie ausgelöscht, unzugänglich. Nur langsam erschließt sich Helene ihr Leben und sie erinnert sich an die ersten Jahre mit Matthes in der DDR der 1980er Jahre. Mühevoll tastet sie sich in die eigene Vergangenheit vor, mit dem Zurückerinnern kommen Emotionen wieder hoch und überschwemmen Helene mit voller Wucht. Und wo sind die Wörter geblieben, die verlorenen Wörter, mit denen sie als Schriftstellerin so gekonnt zu jonglieren wusste? Der Bauplan der Rede, das Wortkartenhaus, stürzt noch vor dem Aussprechen in sich zusammen. Die Sprache, "das schlafende Tier" (S. 78), muss mühsam zurückerobert, Begriffe müssen neu eingeordnet werden: "Immer wieder muss sie sich der Worte vergewissern, aber ob das, was sie dazu denkt, richtig ist, weiß sie nicht. Nicht genau. Nicht genau genug, denkt sie." (S. 313) Beachtlich, mit welcher Ausdruckskraft Kathrin Schmidt, die selbst 44-jährig eine Hirnblutung erlitt, diesen Lebenseinschnitt, den Verlust der Sprache und das mühevolle Zurückerobern der Welt, in Worte fasst. Der autobiografisch gefärbte Roman, der mit dem Deutschen Buchpreis 2009 ausgezeichnet wurde, entwickelt einen Sog. Gemeinsam mit Helene fühlt man sich abgekapselt von der Welt, man erfährt ihren lähmenden Gesundheitszustand durch dieses unmittelbare Erzählen beinahe am eigenen Leib. Anspruchsvolle Literatur, bewegend und in ihrer sprachlichen Dichte beeindruckend. Sehr empfehlenswert. *bn* Cornelia Gstöttinger
Personen: Schmidt, Kathrin
DR
SCHM
Schmidt, Kathrin:
Du stirbst nicht : Roman / Kathrin Schmidt. - Köln : Kiepenheuer und Witsch, 2009. - 347 S.
ISBN 978-3-462-04098-2 fest geb. : ca. Eur 20,60
DR - Belletristik