Elschenbroich, Donata
Weltwissen der Siebenjährigen wie Kinder die Welt entdecken können
Sachbuch

Die strahlende Intelligenz der Vorschulkinder und was Öffentliche Bibliotheken von ihnen lernen können von Christina Gastager-Repolust Eltern begleiten ihre Kinder bange zum ersten Schultag: Ist Anna reif genug? Wird der verträumte Philipp beim Erlernen der Grundkünste wie Lesen, Schreiben und Rechnen mithalten können? Philipp beobachtet mehrere Stunden am Tag, scheinbar tatenlos, sein 60-Liter-Aquarium. Ob es ausreicht, 20 Fische am Leben zu erhalten, um auch die Schule bestehen zu können? Wer wird Anna danach fragen, welches Gewürz am besten in Erdbeermarmelade passt, wie man Lavendeleis zubereitet? Die 6-Jährige hat all das mit zwei, drei, vier und fünf Jahren bei ihren Großeltern gesehen, gerochen, erfragt, erkostet und selbst erprobt. Im Laufe der ersten sieben Lebensjahre sammeln Kinder als geborene Forscher und unermüdliche Weltentdecker Erfahrungen und unverwechselbare Erlebnisse, bauen in sich Grunderfahrungen auf. Dieser Schatz ist noch lange nicht gehoben, ein sensationelles Buch unterstützt Erwachsene, klarsichtig für das Wissen der Kinder zu werden. Die Expertin für Bildung in frühen Jahren Donata Elschenbroich präsentiert in ihrem Buch 'Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können“ einen offenen Bildungskanon für die ersten Lebensjahre. Mehr noch: sie weckt die Lust darauf, mit Kindern die Welt zu entdecken, sofort, jetzt gleich! Zur Welt und zu sich selber kommen Es gibt Ratgeber, da wünschen sich die lesenden Eltern, sie wären nie geboren - so hoch legen die Autoren/innen die Latte. Pränatal und unbewusst, ach, was haben die Eltern schon alles falsch gemacht: zu wenig oder zu viel Liebe, zu wenig Zeit oder zum falschen Zeitpunkt - 'zu wenig“ in jedem Fall. Daneben gibt es Bücher, da wünschen sich die Leser/innen, ein Kind würde neben ihnen sitzen, sie könnten Jause in den Rucksack packen und gemeinsam losziehen diese Welt zu entdecken. Donata Elschenbroichs Ausführungen sind noch viel schöner als Panama. "Menschen sind Wesen, die nicht nur geboren werden, sondern noch zur Welt kommen müssen." So leitet Donata Elschenbroich ihre Reise in das Weltwissen der 7-Jährigen ein und erläutert weiter: "Die Welt ist der Inbegriff von allem, womit man Erfahrungen macht, wenn man in ihr ist." In den frühen Jahren sei das 'progressive Welteinwohnen“ besonders ausgeprägt, das Menschenjunge sei bereit, alle Signale aufzunehmen, die in 'Borneo, Boston oder Bremen [in Bischofshofen, Bramberg und Bad Hofgastein, C. G.-R.] Sinn machen für seine jeweilige Existenz. Unerschrockene Erfinderlust, eine tiefe Begeisterung fürs Lernen zeichnet diese 'strahlende Intelligenz“ der Kinder im Vorschulalter aus: unermüdlich üben sie, fallen um, ziehen sich erneut auf und robben, krabbeln, gehen los, balancieren auf dem Fahrrad, streichen mit dem Finger über eine Buchseite. Kinder sind eine Botschaft des Möglichen Kaum kann es sitzen, will es krabbeln, kaum kann es krabbeln, dann will es aufstehen. Kaum überlebt Philipps erster Goldfisch, will er einen zweiten; dann ist sein Ziel ein größeres Aquarium, dann besucht er den Nachbarn mit dem ganz großen Aquarium, schließlich entdeckt der 5-Jährige noch den Zauber der Wasserpflanzen. Die dreijährige Anna forscht über Pyramiden, auf dem Globus findet sie zielsicher Ägypten, im Atlas schlägt sie strahlend die entsprechenden Seiten auf. Paul wird vier, mir hat er kürzlich den Teletext beim Fernsehapparat eingestellt, 'Schau, das Wetter!“ Peter Handke hat 1980 in der 'Kindergeschichte“ bemerkt: "Er sah, dass sein Kind ihm in vielem voraus war. Und er war der Zeit, der Gegenwart, dafür dankbar." Je mehr ein Kind von der Welt weiß, umso interessanter wird sie. Erwachsene wachen an den Schleusen der Kultur und befragen sich nach dem Wissen, das sie eventuell brach liegen lassen oder übersehen könnten: Haben wir den Kindern genug beigebracht? Haben wir sie ausreichend gefördert? Donata Elschenbroich hält es mit dem Ermuntern und dem Neugierigmachen der Erwachsenen; sie reduziert ihre Empfehlungen auf einfache Zusammenhänge, sogleich umsetzbar. "Zur Überlebensfähigkeit und zum Glück des Menschen gehört seine Entscheidungsfähigkeit, die Freiheit zu wählen und Nein zu sagen." (S. 13) Kinder jeden Alters brauchen das 'freie“ Angebot, das freie Aussuchen der Medien: eine gut ausgestattete Bibliothek mit einer Kinderecke mit integrierter Lesestiege oder Lesewiese ist die architektonische Basis für die Freiheit, dass sich Kinder ein Bilderbuch immer wieder, noch einmal - alleine aussuchen können. Dass sie aus dem gesamten Angebot an Literatur auswählen, Illustrationen ansprechend finden, vor denen sich die Bibliothekarin beinahe fürchtet. - Kinder lernen ausschließlich durch ihre eigenen Fragen und ihre eigenen Lösungen, Bibliothekare/innen hören ihnen zu, haben Zeit für sie. 'Im Kind die Kraft zu bestärken, sein eigener Lehrer zu sein, darum geht es“, fasst Elschenbroich die Bemühungen der Erwachsenen zusammen, den Neugeborenen und den Kleinkindern die Dinge zu benennen: Den Kopf heben, aufhorchen - das sind weltbildende Gesten. Das Kind hebt den Kopf und sieht die Welt aufgehen. Das Kind bildet dabei einen Horizont, die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Wirklichen und dem Möglichen. Terrain gewinnen, den Horizont voranschieben, unterwegs zu einem Zuwachs an Welt, unablässig: Das heißt lernen. Die Liste der elementaren Bildungserlebnisse Donata Elschenbroich hat von 1996 bis 1999 über hundertfünfzig Gespräche mit Menschen aller Schichten - Eltern, Verkäufer, Arbeitslose, einem Bischof, Naturwissenschaftler/innen, zwei Siebenjährigen usw. - geführt und nach ihren Ergänzungen der Wunschliste des 'Weltwissens der Siebenjährigen“ gefragt. Orte der Recherche waren außer Seminarräumen Küchen und Kinderzimmern, Parkbänke und Redaktionen, nicht zuletzt Bahnabteile. Ausgangspunkt war eine Liste mit Vorschlägen, wie etwa: Ein siebenjähriges Kind sollte vier Ämter im Haushalt führen können (etwa: Treppe kehren, Bett beziehen, Wäsche aufhängen, Handtuch bügeln). Es sollte ein Geschenk verpacken können. Drei Rätsel, drei Witze erzählen können. Einen Zungenbrecher aufsagen können. Eine Sonnenuhr gesehen haben. Ein chinesisches Zeichen geschrieben haben ... Keine Checkliste für Kinder! Um Missverständnissen vorzubeugen: Donata Elschenbroich entwirft hier kein Raster eines Fähigkeitenrankings. Schon eher eine Checkliste der Pflichten der Erwachsenen. Es soll ihrer Selbstverpflichtung dienen: Welche Bildungsgelegenheiten schulden wir den Siebenjährigen? Ein Versprechen: dafür zu sorgen nehmen wir uns vor, wir Eltern, Erzieher, Nachbarn [und Bibliothekare/innen, C. G.-R.] Angeboten soll es den Kindern werden. ... Keine dieser Gelegenheiten sollte in einem Kinderleben grundsätzlich von vorneherein ausgeschlossen sein. Hier einige Auszüge aus dem Panorama nach 150 Gesprächen: Was Siebenjährige können/erfahren haben sollen. - die eigene Anwesenheit als positiven Beitrag erlebt haben. 'Wenn du nicht wärst ...“ - gewinnen wollen und verlieren können - das Märchen vom Holzlöffel kennen und andere elementare Stoffe/Gleichnisse von Aussetzung und Geborgenheit - Wunderkammer Museum: die Botschaft der Dinge. Ihre Aura, ihr Altern, ihr Fortbestehen nach unserem Tod - eine Ahnung von Welträumigkeit, von anderen Kontinenten haben - wie sieht der eigene Name in Sand geschrieben aus? Im Schnee, auf dem Waldboben, an der beschlagenen Fensterscheibe? - ein Buch von Deckel zu Deckel 'kennen“, wie auch immer - Flüche, Schimpfwörter kennen (in zwei Sprachen) Ich empfehle Ihnen als Bibliothekare/innen, diesen Kanon gut lesbar zu kopieren, so dass wirklich niemand seine Lesebrille suchen muss, um sich an diesen herrlichen Anregungen zu erfreuen. Dass auch die Jungleser/innen hier erfahren, was sie denn schon alles können und was ihnen die Erwachsenen noch gerne vermitteln möchten. Hängen Sie ihn in die Bibliothek und sammeln sie die Rückmeldungen, etwaige Ergänzungen, veranstalten Sie eine Podiumsdiskussion und freuen Sie sich über das rege Interesse an dem, was Kinder wissen sollten. Mit ihrer Anregung 'Jedes Kind sollte in seinen ersten sieben Jahren ein chinesisches Zeichen geschrieben haben“ hat Donata Elschenbroich Widerstand erzeugt, ihre Reaktion besticht: Die Diskussion um die Naturwissenschaften ist vergleichbar mit den Ansichten um die Schriftlichkeit. Soll das Kind bereits vor Schuleintritt schreiben können? Da muss man viel früher einsetzen, die ersten Annährungen, diese spontanen und noch ganz unbelasteten Annährungen - die Welt der Zeichen und das Phänomen Welt in den Kindern zu verankern. Ihre Vorschläge zu 'Schrift und Zeichen“ sind Anregungen für Bibliothekare/innen und Lesepädagogen/innen, Eltern und Kindergartenpädagogen/innen: Jedes Kind sollte in den ersten sieben Jahren eine schriftliche Botschaft, einen Brief geschrieben oder gelesen haben ... es sollt eine e-mail empfangen und gesendet haben. Es sollte seinen Namen in Blindenschrift gefühlt, gelesen haben. Oder eine Botschaft in Gehörlosensprache gesendet oder empfangen haben - als ermutigendes Wissen, dass ein Sinn dem anderen aushelfen kann. Impulse zur Umsetzung - Ermuntern Sie Vorschulkinder beim Besuch in der Bibliothek, e-mails zu versenden. - Legen Sie Blätter mit der Blindenschrift auf, lassen Sie die Kinder - ein Blatt pro Kind steigert die Intensität der Beschäftigung - die Zeichen fühlen - Malen Sie mit den Kindern unter fachkundiger Anleitung ein fremdes Schriftzeichen - Legen Sie in Großformat das lateinische Alphabet bereit, am besten in Schmirgelpapier zum Darüberstreichen - Hängen Sie die Buchstaben des Alphabets groß in der Bibliothek auf - Schreiben Sie im Winter und im Sommer mit den Kindern Buchstaben in den Schnee/in den Sand - Stellen Sie eine Tafel auf, hängen Sie eine Endlosrolle mit Papier an die Wand: ermuntern Sie zum Malen, das im Schreiben mündet - Hängen Sie eine Weltkarte auf, hängen Sie Karten der einzelnen Kontinente an die Wand - Organisieren Sie 'Spezialausstellungen“ der jungen Forscher/innen: des Steine-Spezialisten, des Wiesenblumenspezialisten, des Dinosauerier-Experten - Hängen Sie Ihre Frage der Woche auf, z. B. 'Wo kommt der Regen her“ und sammeln Sie - ernsthaft! - die einlangenden Antworten, die sie selbstverständlich ebenfalls öffentlich machen, ebenso die Antwort auf Ihre Frage - Regen Sie Sammlungen an einem bestimmten Ort der Bibliothek an: Urlaub, Schulweg - Führen Sie Sing- und Reimspiele, Zungenbrecher ein, nehmen Sie Ihre Aufgabe im Nachdenken über Sprache, über Sprach-Bewusstsein ernst - Nehmen Sie den Sachbuchbestand für Kinder wichtig, arrangieren Sie Büchertische zur 'DINGWELT“ und drappieren Sie viele 'Warums“ neben den Sachbüchern - Richten Sie eine Schreibecke in der Bibliothek ein: mit Memos, einem Kalender, Luftpostpapier, unterschiedlichen Papiersorten, Stempel, Schiefertafel, Federkiel, Briefumschlägen - Gestalten Sie mit den Kindern ein eigenes Bilderbuch, eine Schriftrolle - Widmen Sie sich der Knotenschrift, der Blindenschrift, den Hieroglyphen ... Raum und Zeit für Kinder Wer den Horizonten des Weltwissens in unterschiedlichen Kulturen entlang wandert, wird sich den Fragen nach RAUM - wie viel Raum ist Kindern in öffentlichen Diskursen, in Medien, in den Städten und Wohnungen - und ZEIT - wie viel ist die Beziehungs-Zeit wert, welches Ansehen genießen Menschen, die ihre Zeit mit Kindern verbringen - stellen. Diese Filter in den Kulturen des Aufwachsens zu erkennen, mag eine Zukunftsaufgabe sein, zu beantworten ist sie für Österreichs Öffentliche Bibliotheken. Öffentliche Bibliotheken sehen viel Raum für Kinder vor: Krabbelkinder, Vorschul- und Schulkinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Die eigens auf die Bedürfnisse der Kinder abgestimmte Einrichtung zeigt den Eltern: wir freuen uns auf deine Kinder, hier ist Platz für sie und zeigt den Kindern: herzlich willkommen, wir freuen uns. Eine Garderobe und ein Spiegel in Augenhöhe der Vorschulkinder ist Zeichen des Respekts; ebenso die eigene Entlehnkarte, die eigene Entlehner-Nummer. Bibliothekare/innen sitzen an einer wunderbaren Quelle: sie sehen die Neugier, die Freude, die Skepsis in den Augen der Kinder, wenn sie sich über die Bücher beugen, auf ihnen oder in ihnen liegen. Diese nassen kleinen Finger, die alles begreifen wollen, ein Zahn nagt auf der Unterlippe, dann dieses unwiederbringliche Lächeln. Auch diese entschiedene Ablehnung, der entschlossene Gesichtsausdruck. Betonen Sie gegenüber Schule, Gemeinde- und Pfarrvertretung, den Bildungssprechern und Kulturbeauftragten, was dieses frühe Forschen bedeutet. Donata Elschenbroich hat das Weltwissen der jungen Kinder in Gesprächen umwandert: "Kinder zeigen uns die Dinge, als seien sie gerade erst entstanden. Wie geheimnislos ist uns erwachsenen Altlesern das Lesenkönnen geworden, manchmal zu einem geradezu lästigen Reflex. Dagegen der Triumph des ersten Lesens: aus Zeichen, zu einem Text zusammengesetzt, steigt die Welt auf." In den Bildungsminiaturen regt die Autorin an, mit Kindern ein 'Ich-als-Kind-Buch“ zu gestalten, in dem wesentliche Ereignisse schriftlich festgehalten sind; Kinder erfahren dabei: "Zeit ist nicht nur Zukunft. Gelebte Zeit, das Gewesene ist wert, erinnert zu werden. Ich, meine unverwechselbaren Erlebnisse, sind es wert, erinnert zu werden." Sie spricht von 'guten Orten“ und ich meine, dass Öffentliche Bibliotheken solche guten Orte sind, dass sie ein gemeinsamer Lieblingsort von Eltern und Kindern sind. Die Bibliothek bietet Kindern und Erwachsenen ein Ordnungssystem an, an dem sich die Kinder gerne erproben und sie ermöglichen das 'Nochmal“ und 'Nochmal“ beim Anschauen und Vorlesen. Unterschiedliche Formen von Mündlichkeit - das Imitieren von Geräuschen, von Tierlauten, Sprechstilen, von Zungenbrechern und ersten Reimen - bereiten auf die Schriftlichkeit vor, ebenso das Singen: So beinhaltet die Alphabetisierung von Kindern Hören, Sprechen, Singen, Lesen und Schreiben. Nicht nur Orte sind Heimat, auch Tätigkeiten: wie das Lesen, das Schreiben, das Zuhören, das Blättern, das Singen und das Aussuchen von Büchern. Manche alltägliche Sternstunde im Erwerb von Weltwissen findet zwischen den Regalen in Öffentlichen Bibliotheken leise statt: wir sollten alle Erwachsene darauf neugierig machen. Staunen kann man jederzeit wieder lernen. *bn* Christina Gastager-Repolust


Personen: Elschenbroich, Donata

Schlagwörter: Schule Erziehung Bildungsreform Kindheit Kleinkinderziehung Kognitive Entwicklung Weltbild Kind <3-7-Jahre> Wissen

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Elschenbroich, Donata:
Weltwissen der Siebenjährigen : wie Kinder die Welt entdecken können / Donata Elschenbroich. - München : Kunstmann, 2001. - 260 S. : Ill.
ISBN 3-88897-265-5 fest geb. : ca. Eur 17,40

Zugangsnummer: 0013293001 - Barcode: 6104135150
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