Senior José verkörpert das Lebensgefühl und Standesbewußtsein des 'kleinen Mannes". Als einfacher Schreiber steht er am unteren Ende der Hierarchie des ehrwürdigen und auch ein wenig furchtgebietenden Einwohnermeldeamtes - einer Art Tempel der Bürokratie, in dem die Namer aller Lebenden und aller Toten verzeichnet sind und penibel verwaltet werden. Als funktionierendes Rädchen hat er, der einsam, monoton und wunschlos für sich dahinlebende Junggeselle, jahrzehntelang dort gewissenhaft seinen Dienst versehen und die Regeln des Dienstes zu seiner eigenen Lebenshaltung gemacht. Als ihm in seiner einzigen Freizeitbeschäftigung, dem Sammeln von Informationen über berühmte Persönlichkeiten, versehentlich die Karteikarte einer ihm unbekannten Frau in die Hände fällt, bricht mit dem Zufall auch das Schicksal in sein Leben herein und bringt das disziplinierte Räderwerk gehörig durcheinander. Bei seiner fiebrig-leidenschaftlichen Suche nach dieser fremden Frau bricht er mit allen überkommenen Gesetzen, dringt nachts in eine Schule und in das Einwohnermeldeamt ein, und er, der Vorsichtige und Furchtsame, wagt es sogar, nachts in die lebensgefährlich-labyrinthischen Archive der Toten vorzustoßen. Mit falschen Vollmachten ausgestattet, recherchiert er im Bekanntenkreis dieser Frau, und obwohl die Motive seiner verzweifelten Suche im Verborgenen bleiben, baut sich eine ungeheure Spannung auf, deren Zielpunkt hier nicht verraten sei. Saramagos großer Roman um einen kleinen Mann atmet von den ersten Zeilen an eine eigene und faszinierende Atmosphäre, in die man als Leser hineingezogen wird. Die Ebenen von Disziplin und Leidenschaft, von Planung und Zufall, von Leben und Tod sind in einer gelungenen Verschmelzung von Realismus und Symbolismus zusammengeführt. Mit diesem Text tritt man in eine faszinierend befremdliche Welt, die einem so schnell nicht wieder loslässt. *bn* Reinhard Ehgartner

---

---

Personen: Saramago, José

Interessenkreis: Klassiker