Renate Welsh schildert uns ganz unaufdringlich ein Frauenschicksal des 20. Jahrhunderts, wie es oft, nur allzu oft geschehen ist. Aber wurde es in seiner Eindringlichkeit auch wahrgenommen? Wurde dem Gewöhnlichen, Alltäglichen die Aufmerk-samkeit geschenkt, die es verdient? Rosa, die Heldin des Romans, ist ein ungewünschtes Kind, so fängt es schon einmal an, und auch später wird ihr Leben eine graue Randexistenz bleiben, die Geborgenheit einer Familie wird sie nie haben. Die wenigen Menschen, die ihr wichtig und vertraut sind, begleiten immer nur für kurze Zeit ihren Weg. Eine Weißnäherin, bei der Rosa in die Lehre geht, ist ihr Lehrmeisterin und Bezugsperson, doch sie ist Jüdin und geht 1938 nach Prag - Rosa wird nie wieder etwas von ihr hören. Ihren ersten Freund, der durch einen Unfalltod stirbt, verliert sie so plötzlich, wie er in ihr Leben getreten war. Mit ihm wollte sie ihr Leben aufbauen, und alles wäre anders geworden, wenn. Da tritt ein um vieles älterer Mann an sie heran, ein verwitweter Schneider. Ob sie ihn liebt, darüber denkt Rosa nicht einmal nach, sie heiratet ihn, weil man in solchen Zeiten eben in solchen Situationen heiratet. Schließlich handelt es sich auch um eine Flucht vor den Eltern, die ihr immer mehr mit Unverständnis und Kälte begegnen, erst recht als das Gift des Nationalsozialismus auch in sie dringt. Da ist Ferdinand ganz anders, und irgendwann kann Rosa für ihren Mann auch tatsächliche Liebe empfinden, ein Glück, das wieder nur begrenzt ist, denn Ferdinand unterstützt Nazigegner, seine Hilfsbereitschaft wird ihm zum Verhängnis. Von ihren Eltern kann Rosa in dieser Situation nichts mehr erwarten, sie bleibt in ihrer Not völlig alleingelassen, und als sie am Ende auch noch ausgebombt wird, steht sie als "Trümmerfrau" vor einem mehrfach zerbrochenen Leben. Erneut nimmt sich eine fremde Frau ihrer an und wird ihr zur mütterlichen Freundin, doch auch diesen Halt verliert Rosa. Und nun glaubt sie, daß sie allen nur Unglück bringe, daß sie gar nicht auf die Welt hätte kommen dürfen, das habe schließlich ihre Mutter oft und oft zu ihr gesagt. Immerhin meint es noch einmal jemand mit ihr gut und ermöglicht ihr eine kleine Lebenssicherung: Rosa wird Straßenbahnschaffnerin und erhält eine kleine Zimmer-Küche-Wohnung, größere Ansprüche hat sie auch gar nicht gehabt. Als sie aus dem Gröbsten heraußen ist, ist Rosa 27. Sie ist allein und muß feststellen: "Das Frausein war ihr abhanden gekommen." Es ist eine der überzeugendsten Szenen im Buch, eine schmerzhafte Erkenntnis, aber auch ein Selbsturteil. Es dauert lange, bis Rosa wieder in ein halbwegs normales Leben zurückfindet. Aber in dieser Zeit verliert sie das, was man die schönsten Jahre nennt. Während andere Kinder großziehen oder Karriere machen, verläuft Rosas bescheidenes Leben in unscheinbarem Gleichmaß. So wird sie langsam alt, die schweren Nachkriegsjahre gehen ebenso rasch vorbei wie die fünfziger und sechziger Jahre, wo der Wirtschaftsaufschwung immer mehr alle Wunden und Brüche zudeckt. Welsh geht es aber nicht darum, Zeitumstände zu schildern - die ergeben sich von selbst -, sie fokussiert alles auf eine zunächst junge Frau, die den Zeitläufen hilflos ausgeliefert ist, die aber Fragen stellt und Widerstände setzt, freilich ohne zu rebellieren.
Personen: Welsh, Renate
Zba Welsh
Welsh, Renate:
¬Die¬ schöne Aussicht : Roman / Renate Welsh. - München : Dt. Taschenbuch-Verl., 2005. - 236 S. ; 21 cm. - (dtv premium)
ISBN 978-3-423-24494-7 fest geb. : ca. Eur 14,00
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