Vor meinen Augen ist ein beeindruckender Roman, der sich fast wie ein Krimi liest und nach und nach eine furchtbare Geschichte entfaltet. Alice Kuipers hat nach ihrem erfolgreichen Debut Se-hen wir uns morgen? erneut eine Geschichte verfasst, die unter die Haut geht. Sophie erzählt ihre Geschichte, in dem sie ihr Leid einem Tagebuch anvertraut. Den Ratschlag bekam sie von ihrer Therapeutin und sie muss erkennen, dass es manchmal hilft, sich alles von der Seele zu schreiben. Doch ist es gerade diese Tagebuchform, die es ermöglicht, dass Sophie sich erst langsam ihrem Kummer nähert und erst zum Schluss der Geschichte erfahren die Leser die ganze erschütternde Wahrheit. Sophie vermisst ihre Schwester Emily, die, und das kann verraten werden, gestorben ist. Sie kann ihren Verlust nicht verschmerzen, ihre Mutter zieht sich zurück und das früher so fröhliche Zuhause ist voller Schweigen und Trauer. Doch Sophie kann auch nicht mit ihrer besten Freundin Abigail sprechen und beide entfremden sich immer mehr. Sophie be-merkt nur am Rande die Veränderungen, die Abi durchmacht und die Situation wird immer schwieriger, als sich beide in denselben Jungen verlieben. Abi trinkt immer mehr, Sophie zieht sich zurück und schweigt. Nur ab und trifft sie sich mit Rosa-Leigh, die neu in der Klasse ist und daher kaum Sophies Geschichte kennt. Sie ist es, die Sophie dazu bringt, Gedichte zu schreiben. Ähnlich wie das Tagebuchschreiben helfen Sophie die Gedichte, zu vergessen. Wenn ich ein Gedicht schreibe, fühle ich mich während der ganzen Zeit des Schreibens gut. Die restliche Zeit weiß ich nicht, was ich fühle. Ich will eigentlich gar nichts fühlen. Doch Sophie Ängste nehmen immer mehr zu, sie leidet unter Panikattacken und findet es immer schwieriger, mit Leuten Kontakt zu halten. Während die Mutter langsam aus der Trauer ausbricht, ist es Sophie, die immer mehr darin versinkt und Abigail verliert. Sie bemerkt zwar, dass Abi eine Essstörung hat, doch helfen kann sie nicht. Erst langsam kommt es zu Veränderungen und Sophie beginnt, sich etwas zu öffnen . Der Verlust eines lieben Menschen ist immer schmerzlich. Doch Emily ist plötzlich verstorben, war nicht krank und Sophie gibt sich die Schuld an ihrem Tod. Sie kann jedoch nicht darüber reden - weder über ihre Schuldgefühle noch über Emilys Tod oder wie sie diesen erlebte. Alice Kuipers nähert sich einem schwierigen Thema sensibel an. Sie entfaltet vorsichtig die Geschichte und zeigt, wie sich Sophie verändert und wieder erst nach und nach öffnet. Doch zunächst sucht sie das Vergessen und küsst daher gerne den Freund ihrer besten Freundin, auch wenn sie voller Schuldgefühle ist. Doch in wenigen Sekunden des Küssens vergisst sie ihr Leid. Sie hasst sich für ihr Verhalten, das sie gegenüber ihrer Mutter lebt. Doch sie weiß nicht, wie sie sich sonst verhalten soll. Was ist normal, wenn die Schwester bei einem terroristischen Anschlag ums Leben kommt und Sophie neben ihr stand? Alice Kuipers entwirft unterschiedliche Charaktere, die trotz der Form des Tagebuches mit Leben ausgestattet sind und alle um eben jene Frage kreisen, wie sie sich Sophie gegenüber verhalten sollen. Ihre Stimmungen sind spürbar und man merkt auch ihr Leiden. Ähnlich wie Sophie erinnern sie an Schatten, die sich mitten in der Pubertät befinden, erwachsen handeln und doch Kinder voller Angst sind. Die Eltern, auch das zeigt der Roman, sind nicht immer für ihre Kinder da, um ihnen die Ängste und Sorgen zu nehmen. Sophie steckt zunächst in dem Loch und auch die alltäglichen Teenageraktivitäten wie Partys oder Alkohol helfen ihr nicht, ihre Trauer zu überwinden. Auf die Frage, wie es ihr geht, antwortet sie meist mit "Alles bestens!" und lächelt dabei. Was dahinter steckt, wissen nur ihre Tagebuchsei-ten. Doch die Menschen glauben ihr sogar und zeigen so, dass sie zwar an anderen interessiert, aber mit bestimmten Situationen auch völlig überfordert sind. Auch Abigail weiß nicht, wie sie mit ihrer besten Freundin umgehen soll. Reden? Schweigen? So tun, als wäre nichts passiert? Der Roman liefert keine Antworten auf diese Fragen, möchte es auch nicht, aber er regt zum Nachdenken an. In Sophies Klasse sind auch mus-limische Jugendliche. Ihr Leben nach solchen Anschlägen wird gestreift. Sophies beklemmendes Gefühl in ihrer Nähe trotz des Wissens, dass sie auch unter den Anschlägen leiden. Dass das Leben weitergeht, muss Sophie immer wieder erkennen. Ein wirklich spannender und aufgrund der Sprache ein wunderbar poetischer Roman, der sich einem schwierigen Thema mit der nötigen Sensibilität nähert!
Personen: Kuipers, Alice
5.2 Kuipe
Kuipers, Alice:
Vor meinen Augen / Alice Kuipers. Aus dem Engl. von Angelika Eisold Viebig. - Frankfurt a. M. : FJB, 2011. - 220 S.
ISBN 978-3-8414-2121-0 fest geb. : 14,95 _
Jugendromane ab 13 J. - Buch