In Deutschland und anderen Ländern Europas wird der Anteil der religiös und kirchlich Gebundenen immer geringer. Der Säkularisierungsprozess schreitet graduell, aber unaufhaltsam fort und betrifft beide christliche Konfessionen. In diesem Beitrag untersuchen wir, ob und in welcher Weise die Reduktion religiöser Kernsegmente das Verhältnis von Religion und Politik beeinflusst. Drei, teilweise gegensätzliche Erwartungen lassen sich formulieren. Die gerade im nordamerikanischen Kontext populäre Radikalisierungsthese unterstellt ein Bedrohungsgefühl, das religiöse Gruppen in einer Abwehrhaltung gegenüber einer zunehmend säkularen Gesellschaft zusammenschweißt, radikalisiert und politisch mobilisiert. Eine zweite Erwartung basiert auf der Annahme, dass insbesondere Jüngere, wirtschaftlich gut Situierte und höher Gebildete aus den Kirchen austreten. Da sich so die soziale Komposition der im religiösen Kontext verbliebenen Gruppe ändert, wäre nicht Radikalisierung, sondern Traditionalisierung und ein Rückzug aus der Politik zu erwarten. Schließlich kann drittens angenommen werden, dass der Säkularisierungsprozess die Gesellschaft insgesamt ergreift, sich durch die Auflösung der engen religiösen Milieustrukturen die soziale Kontrolle abschwächt und sich damit religiöse und politische Einstellungen entkoppeln. Der zentrale Befund unserer Analysen ist, dass der zuletzt aufgeführten Hypothese entsprechend Religion ihre Funktion für politische Einstellungen und Verhaltensweisen verliert. Im deutschen Kontext ist die Wirkung von Religiosität auf Politik fast ausschließlich hinsichtlich des Wahlverhaltens untersucht worden. Indem hier ein breites Repertoire an Einstellungen und Verhaltensweisen untersucht und eine dynamische Perspektive verfolgt wird, schließt der Beitrag eine Forschungslücke.
In Germany as in other European countries the share of religious and churched persons is shrinking. The process of secularization is progressing gradually but inexorably and affects both Christian churches alike. In this contribution we examine if and how the numerical shrinkage of religious core segments affects the relation between religiosity and political attitudes. From secularization theory one can derive three partly opposing expectations. The radicalization thesis - particularly popular in the USA - assumes religious groups feel threatened by an increasingly secular society and this ties them together, radicalizes and mobilizes them. A second expectation rests on the assumption that in particular younger, economically well-off and highly educated people leave the churches. Through this process the social composition of the remaining church members changes leading not to radicalization but to traditionalization and withdrawal from politics. Finally, according to a third view it can be expected that the secularization process affects the entire society leading to a disintegration of tight religious milieus which in turn leads to a dissolution of social control and a decoupling of religiosity and political orientations. The central finding of our analyses is that - in support of our third hypothesis - religion loses its function for political attitudes and behaviors. In the German context the effect of religiosity on politics has been nearly exclusively studied with respect to voting behavior. By extending the focus to a wide range of other attitudes and behaviors and by taking a dynamic perspective this contribution thus closes an important research gap.
Enthalten in:
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie; 2013/Sonderheft 53
(2013)
Serie / Reihe: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
Personen: Wolf, Christof Roßteutscher, Sigrid
Wolf, Christof:
Religiosität und politische Orientierung : Radikalisierung, Traditionalisierung oder Entkopplung? / Christof Wolf ; Sigrid Roßteutscher, 2013. - S.149-181 : graph. Darst. - (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie) Religion und Gesellschaft
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