Rezension: Was war das für ein Heulen und Zähneklappern, als PISA dem deutschen Schulsystem bestenfalls mittelmäßige Qualität attestierte! Mit Erscheinen des Ländervergleichs droht dieser Warnschuss nun an Wirkung zu verlieren, wenn sich die Testsieger Bayern und Baden-Württemberg plötzlich als einäugige Könige unter den bildungsblinden Bundesländern aufspielen. Die Autoren selbst machen klar, dass ihre Studie "nicht als Bildungsolympiade" zu verstehen ist, "bei der Gewinner und Verlierer ermittelt werden". Sie solle vielmehr der Objektivierung und Vergleichbarkeit von Bildungsprozessen und -ergebnissen Vorschub leisten und "wechselseitiges Lernen" zwischen den Teilnehmern ermöglichen. Wie viele Faktoren es dabei zu berücksichtigen gilt, lässt gleich zu Beginn ein Crash-Kurs in sozioökonomischer Landeskunde ahnen. So steht zu vermuten, dass beispielsweise das verfügbare Einkommen je Einwohner -- 1999: 32.300 DM in Baden-Württemberg, 25.700 DM in Thüringen -- einen Einfluss auf Bildungschanchen des Einzelnen hat. Eine Methode, solche Kontextbedingungen wissenschaftlich korrekt in Rechnung zu stellen, gibt es noch nicht.
Gerade in Bayern ist die Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Schulkarriere besonders eng: Bei gleichen intellektuellen Voraussetzungen werden Arbeiterkinder dort mit einer sechs Mal geringeren Wahrscheinlichkeit ein Gymnasium besuchen als Kinder mit höchstem Sozialstatus. Hier zeigt sich sehr schön, dass PISA letztlich mehr Fragen als Antworten parat hält. Denn hinter dem erwähntem Befund könnte man statt mehr oder weniger versteckter Diskriminierung ebenso gut ein unzureichend ausgeprägtes Bildungsbewusstsein in den benachteiligten Schichten vermuten. Die bereits in der internationalen Studie ermittelte Bedeutung eines lern- und lesefreundlichen Familienklimas für schulischen Erfolg wird jedenfalls durch den nationalen Vergleich eindrucksvoll bestätigt.
Für große Teile vor allem der männlichen Jugend gehört Lesen aus Spaß schon längst nicht mehr zum Freizeitprogramm. Entsprechend schlecht schneiden sie bei dieser lästigen Pflichtaufgabe ab: In Bremen kommen sage und schreibe 30 Prozent der 15-Jährigen über die unterste Kompetenzstufe, d. h. "ein oberflächliches Verständnis einfach geschriebener Texte", nicht hinaus. Und zu dieser Risikogruppe, die denkbar schlechte Berufsperspektiven besitzt, gehören beileibe nicht nur Migrantenkinder -- wenngleich sie den Gesamtschnitt drücken. Auch in diesem heiklen Punkt belassen es die Autoren bei einer nüchternen Erläuterung des statistischen Materials und halten sich mit Empfehlungen an die Adresse der Politik zurück.
Ein Vorwurf, den man der Studie machen muss, ist der Umstand, dass die Testaufgaben nicht einmal auszugsweise zugänglich gemacht wurden. So können sich Leser kein eigenes Bild von den gestellten Anforderungen machen bzw. ihre eigene Lesekompetenz auf die Probe stellen. Egal, ob sie dann über die eigene Begriffsstutzigkeit oder die der Jugendlichen erschrocken wären, die Schockwirkung des imposanten Zahlenwerks wäre dadurch sicher verstärkt worden. --Patrick Fischer
Weiterführende Informationen
Personen: Baumert, Jürgen (Hrsg.)
A 110
Pisa
PISA 2000 - die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich / Jürgen Baumert ... - Deutsches PISA-Konsortium. - Opladen : Leske und Budrich, 2002. - 254 S. : graph. Darst.
ISBN 3-8100-3663-3 19,80
Bildungspolitik - Buch