Derzeit ist viel von der Kirchenkrise, von einer Glaubens-, ja Gotteskrise die Rede. Kardinal Kasper hat in seiner Kritik an den Reformforderungen des Theologen-Memorandums auf die Notwendigkeit einer "Glaubenserneuerung" verwiesen, die "an der Wurzel" ansetze und "zukunftsträchtige Phantasie" entwickle, um den Glauben weiterzugeben und neu zu präsentieren (FAZ, 06.02.2011). Doch wie kann solche "Phantasie" aussehen? Den Glauben im Blick auf heutige Erfahrungswelten neu zu sagen, birgt das Risiko des Ungewohnten und des Unorthodoxen, es erfordert eine neue Sprache und einen Zugang zum christlichen Glauben, der in der eigenen Biografie durchlebt ist. Das Buch von Thomas Philipp stellt einen solchen Entwurf dar, der mir auch dort anregend erscheint, wo ich die Schlussfolgerungen nicht teile. Der Berner Studentenseelsorger Thomas Philipp bewegt sich an der Grenze von Glauben und Psychotherapie und sucht Wege, in einer erfahrungsnahen Sprache einen Zugang zum christlichen Glauben zu eröffnen. Die Stärke des Buches liegt im engen Kontakt zur inneren Erfahrung des Menschen. In den Spielarten der Psychotherapie, der Lebenshilfe und esoterischer Suchbewegungen spielt das Hören auf diese innere Erfahrung in der religiösen Landschaft heute eine zentrale Rolle. Eine große Zahl von Menschen sucht nach innerer Befreiung und nach einem echten, "lebendigen" Leben jenseits von Konventionen und gesellschaftlichen Erwartungen. Sie versuchen dabei auf die Sehnsucht ihres Herzens zu hören und ihr zu folgen - oft in zunehmender Distanz zum christlichen Glauben und zur Kirche. Das Buch von Thomas Philipp sucht nach Möglichkeiten, den christlichen Glauben in Verbindung mit innerer Erfahrung und psychotherapeutischer Sensibilität zu erschließen. Man merkt dem Autor an, wie er um eine angemessene Sprache ringt, die sehr individuell ist, mal etwas "betulich" wirkt, dann aber wieder kraftvolle Bilder findet, die Aussagen des christlichen Glaubens erfahrungsnah auf den Punkt bringen. Die innere Mitte und große Stärke des Buches liegt darin, wie es einen Zugang zum dreieinen Gott erschließt. Die Wege der inneren Erfahrung, Lebendigkeit und Authentizität sind dem christlichen Glauben heilig: in den Erfahrungen des Geistes Gottes, seiner lebensschaffenden Kraft. Diese Erfahrung wird jedoch rückgebunden an das Wort, an den Anspruch, der im DU des anderen Menschen entgegenkommt. Im konkreten Menschen Jesus von Nazareth begegnet in diesem DU unverstellt das Geheimnis Gottes. Der Mensch braucht das gute Wort des Anderen: Israel erfährt dieses Wort als Zuspruch und Segen, zugleich als Herausforderung und Gebot (77-79). Der Mensch sehnt sich nach solchem Wort, das ihm seine Wahrheit zeigt, ihn herausfordert, vor allem aber: das ihn annimmt auch noch in Scheitern und Leiden. In dem wahrhaft menschlichen Jesus von Nazareth begegnet "eine radikale Hingabe, eine Öffnung und Liebe, die über alle Grenzen hinausgeht" (92) und die gerade darin göttlich ist: "Gott kann durch das Geschöpf leuchten." Hier wird die Liebe Gottes erfahrbar, zugleich die tiefste Sehnsucht des Menschen: ein bedingungsloses "Ja" zum Menschen, das seine Schattenseiten in keiner Weise verdrängt, sondern mit einer größeren, unbedingten Hingabe beantwortet. Der erhabene, unbegreiflich bleibende Gott, auf den die Sehnsucht des Menschen sich richtet, erschließt sich so auf zwei Wegen, die nicht getrennt werden dürfen: in der Erfahrung des Geistes im Innersten des Menschen und in der Begegnung mit Christus, die auf den notleidenden Anderen verweist (Mt 25,40). "Das Wort, das vom Gegenüber kommt, hat das gleiche Gewicht wie die Erfahrung von Lebendigkeit, Kreativität und Kindschaft, die jeden Menschen von innen formen. Einer zur Esoterik neigenden Zeit mag überraschen, dass die Christen in der Außenwelt eine ebenso große Bedeutung finden, wie in der Innenwelt. Umgekehrt kann den Menschen des alltäglichen Funktionierens erstaunen, wie radikal der christliche Glaube die Außenwelt relativiert." (33) Der Weg zum gelingenden Leben und zur eigenen Identität liegt gerade darin, sich von diesen zwei Händen Gottes formen und auf das abgründige Geheimnis Gottes hin ausrichten zu lassen. In einem Bild gesprochen, das Ende des 2. Jahrhunderts Irenäus von Lyon geprägt hat: "Das Geheimnis will den Menschen, dieses Stück Materie, von innen und von außen berühren, halten und gestalten zu seinem Bild: gerade so, wie ein Töpfer sein Gefäß formt." (31) Der Mensch aber findet ins gelingende Leben, indem er den "Ton" feucht hält und sich von den Händen Gottes formen lässt. Aus dieser Bewegung Gottes zum Menschen und des Menschen zu Gott, aus solcher Kommunikation entspringt Kirche - von hierher ist sie zu loben oder zu kritisieren, je nachdem ob ihre sichtbare Gestalt solche Begegnung mit Gottes Wort und Geist ermöglicht oder verstellt. Der zweite Teil des Buches gilt daher der "sichtbaren Gestalt" von Kirche und benennt scharf die kritischen Punkte: die Übermacht männlicher Sichtweisen, die Frage der Macht und die "Krankheit des kirchlichen Amtes", Ausschließlichkeitsansprüche und Überlegenheitsdenken im Verhältnis zu anderen Konfessionen und Religionen. Allerdings folgen die Positionen des Autors hier weitgehend dem mainstream öffentlicher Meinung. Ob Ecken und Kanten der konkreten Kirche Ausdruck eines "narzistischen Rückzugs" (180) sind oder doch das Provozierende Jesu spiegeln, wäre im Detail zu diskutieren. Wenn der Autor resümiert, dass "die dreifaltige Struktur des Christentums mit der Situation der Zeit geradezu erstaunlich zusammen[passt]" (180) - scheint mir Vorsicht angebracht: das Provozierende und Aneckende, das Philipp im Kapitel zu Jesus Christus als dem Wort, das ins Herz trifft, klar herausarbeitet, wird auch die Gestalt von Kirche prägen müssen - als ein aufrichtendes "Ja", das zugleich das scheinbar Selbstverständliche in Frage stellt und darin "Stein des Anstoßes" ist. Die universale, menschheitliche Weite des "Katholischen" bleibt dann an die sichtbare und identifizierbare Kirche gebunden: nicht als narzistischer Rückzug ins Eigene, sondern als konkrete, "inkarnierte" Gestalt des Bekenntnisses zu Christus. *Theologisch-praktische Quartalschrift* 2/2012 Martin Kirschner
Personen: Philipp, Thomas
Philipp, Thomas:
Wie heute glauben? : Christsein im 21. Jahrhundert / Thomas Philipp. - Freiburg : Herder, 2010. - 198 S. : Ill.
ISBN 978-3-451-32348-5 fest geb. : ca. Eur 18,50
so - Signatur: TH30/01 - Buch