Ein Heraustreten aus magischer Stille Hanns-Josef Ortheils Erkundungen der eigenen Kindheit von Cornelia Gstöttinger "Manchmal denke ich, das Schweigen ist mir eingeboren, dann bin ich ein Westerwälder. Man sitzt zusammen und schweigt, man schaut starr irgendwohin, aus dem Fenster, vor sich hin auf einen Fleck, es ist das charakteristische Grübeln der Bauern, eine Art Meditieren, ein Geltenlassen der Stille. Ich habe eine große Nähe zur Stille, deshalb gefällt mir auch so manche Musik, Musik, die aus der Stille kommt und in sie mündet, Musik von Schubert, von Webern, von Cage. Auch das Schreiben kommt aus der Stille, und an seinem Anfang ist das ungeordnete Murmeln, das sich allmählich, wie ein lauter werdendes Rauschen von der Stille abhebt." (S. 11) So berichtet Hanns-Josef Ortheil in dem Essayband 'Das Element des Elephanten" (1994), in dem er sich mit seinem Schreiben und dessen Entwicklung auseinandersetzt. Stille und Schweigen, Musik und Schreiben - das sind jene Elemente, die das Leben des deutschen Schriftstellers in außerordentlicher Weise geprägt haben. Am Anfang steht die Stille, aus ihr heraus entwickelte sich Ortheils absolutes Gehör, sein großes musikalisches Talent, seine Beobachtungsgabe und der Hang, alles akribisch zu notieren. Nun hat er mit 'Die Erfindung des Lebens" einen stark autobiografisch inspirierten Roman geschrieben, in dem er die Entwicklung eines jungen Mannes von seinen stummen Kindertagen bis zu seinen Erfolgen als Konzertpianist und Schriftsteller nachzeichnet. Ein eindrucksvoller, berührender Bildungsroman, in dem sich Ortheil auch der eigenen Kindheit und Jugend annähert. Die Kindheit von Ich-Erzähler Johannes ist ein Leben in Stille: Erst mit sieben Jahren lernt er sprechen und schreiben. 1951 in Köln geboren, ist er das fünfte Kind, doch als er auf die Welt kommt, leben seine vier Brüder nicht mehr: Der erste stirbt kurz nach der Geburt während eines Bombenangriffs, sein zweiter Bruder kommt in den letzten Kriegstagen unter besonders tragischen Umständen ums Leben. Die Mutter glaubt sich mit dem Kind auf einem abgelegenen Hofgut in Sicherheit, als die versprengte deutsche Artillerie auf den Hof feuert. Ein Granatsplitter trifft den Jungen, er ist sofort tot. Dieses traumatische Erlebnis macht den Lebenswillen der Mutter zunichte. Die Trauer überwältigt sie, sie zieht sich immer mehr in sich zurück, geht nicht mehr aus dem Haus und verstummt. Zwei weitere Kinder kommen tot zur Welt. In diese stille Welt wird Johannes hineingeboren. Mit drei Jahren wird er immer verschlossener und zum stummen Spiegelbild seiner Mutter. Es ist eine enge, symbiotische Beziehung, die die beiden verbindet. Der Junge weicht nicht mehr von ihrer Seite und wird zu ihrem Beschützer, spürt er doch, dass es etwas sehr, sehr Schlimmes sein muss, das seiner Mutter widerfahren ist. Es dauert lange, bis der in sich gekehrte Junge es schafft, das Schweigen und mit ihm ein Stück Vergangenheit hinter sich zu lassen. Mit dem Klavierspiel findet er als Vierjähriger eine erste Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. Nun ist er nicht mehr der stumme Junge, der am Spielplatz ins Abseits gedrängt wird, nein, er will ein großer Pianist werden und allen beweisen, dass auch er etwas kann. Mit der Einschulung und der vormittäglichen Trennung von der Mutter kommt es allerdings zu einer tiefen Krise: Verstört sitzt Johannes in der letzten Bank, das Lernen fällt ihm, der Gehörtes fehlerfrei aus dem Gedächtnis am Klavier spielen kann, schwer. Die Buchstaben an der Tafel bleiben ihm fremde Gebilde. Schnell als Idiot gehänselt, hüllt er sich ein in sein autistisches Schweigen und resigniert. Der Vater ergreift die Initiative: Er nimmt seinen Sohn mit in den Westerwald, auf langen Spaziergängen benennt er die Natur ringsum und Johannes lernt durch das genaue Beobachten und Zeichnen die Dinge in seiner Umgebung zu bezeichnen. Nein, er ist kein Idiot! Mit dem Einordnen der Begriffe beginnt er, die Welt zu erkennen, sie zu verstehen, mit jedem Tag klingen die Wörter ein wenig mehr in seinem Kopf und die Zuversicht wächst, eines Tages sprechen zu können: "So wuchsen die Bilder und die Schriftzeichen in meinem merkwürdigen Schädel immer enger zusammen und berührten einander, was nur noch fehlte, war der Klang und damit der letzte, entscheidende Schritt: Dass ich mich endgültig öffnete, dass ich die Welt nicht nur stumm in meinem Kopf sammelte, sondern sprechend an ihr teilnahm." (S. 210) Wenig später sagt Johannes sein erstes Wort, auch seine Mutter gesundet. Leichtfüßig und poetisch schildert Ortheil diesen faszinierenden Entwicklungsweg, der Johannes später bis nach Rom ans Conservatorio führt. Mehrere Sehnenscheidenentzündungen machen die angestrebte Pianistenkarriere jedoch zunichte, über Umwege findet er schließlich zum Schreiben. Ein Schreiben, das seinen Anfang in den Kladden des Siebenjährigen mit den ersten Zeichnungen und dem ersten Festhalten von Wörtern hat. Auch bei Ortheil war mit dem Sprechen der Weg zum Schreiben geebnet: "Ich wurde zum zweiten Mal geboren in der Sprache, die Sprache hat mich wiedergeboren, und als sie mich ausgespuckt hatte als Sprechenden, war das Schreiben da, das alles besiegelnde und dadurch triumphierende Schreiben, mit dem ich jede Silbe, jedes Wort, jeden Satz festhalten konnte für immer, auf dass ich die Sprache nie mehr verlöre." (Das Element des Elephanten, S . 15) Ein Schreiben, das uns hoffentlich noch viele wunderbare Romane beschert.
Personen: Ortheil, Hanns-Josef
Orthte
Ortheil, Hanns-Josef:
¬Die¬ Erfindung des Lebens : Roman / Hanns-Josef Ortheil. - München : Luchterhand, 2009. - 589 S.
ISBN 978-3-630-87296-4 fest geb. : ca. Eur 23,60
Schöne Literatur - Buch