Alfred ist ein Meister des Konservierens, ein Spezialist für die Bewahrung von Vergangenheiten. Als Kurator des Völkerkundlichen Museums in Wien hat er sein Talent zum Beruf und im Privatleben zur Berufung gemacht. Seine Frau Sally hat er unter eine Denkvitrine gestellt, die mit kleinen Einschränkungen auch nach dreißig Ehejahren den Verliebtheits- und Bewunderungszustand von 1977 mumifiziert. Sie besitzt noch immer einen Körper, auf den sie stolz sein kann, heißt es in Arno Geigers fünftem Roman Alles über Sally. Das, unter anderem, hat sie Alfred voraus, der schon einen Kompressionsstrumpf gegen seine Krampfadern trägt: Wir sind beide über fünfzig, aber Sally eindeutig auf der guten Seite des Jahrzehnts, ich schon eher auf der schlechten. Ohnehin ist die emanzipierte Sally das genaue Gegenteil von Alfred: aufgewachsen ohne Eltern, immer unstet und im Unsteten körperlich wie geistig jung geblieben, auf den Wellen des Lebens schwimmend, stets neugierig auf das Andere, auch auf das Andere an einem anderen Mann. Sie wandelte sich ständig, es geschah unter dem Eindruck von Erfahrungen, Orten, Lebenseinschnitten und Menschen, die ihr nahe kamen. Momentan ist dieser nahegekommene Mensch Alfreds guter Freund Erik, der noch dazu mit Sallys Freundin Nadja verheiratet ist. Als im Haus eingebrochen wird, stürzen beide Welten etwas ein. Während ihm die Intimität des musealen Alltags in die Brüche geht, fragt sie sich wieder einmal, ob ein Leben an der Seite eines Mannes die Entbehrung lohnt. Fast diametral hat Geiger seine Figuren aufgebaut, und trotz des Gegensatzes doch völlig glaubwürdig in Beziehung zueinander gesetzt. Das liegt vor allem daran, dass der die Geschichte seines Paares derart unaufdringlich erzählt, dass die ganze Spannung in den Worten, Sätzen, Reflexionen liegt. Alles über Sally ist kein Ideenroma, der plump zwei Daseinsentwürfe nebeneinander stellt. Alles über Sally ist ein leises, fast poetisches, aber auch sehr modernes Buch, gerade, weil es so antimodernistisch daherkommt und in Zeiten surfender Hektik völlig unaufdringlich und wie nebenbei die Frage nach dem rechten Gleichgewicht von Erneuern und Bewahren stellt. So ein Buch hat in der deutschen Gegenwartsliteratur noch gefehlt. -- Thomas Köster
Personen: Geiger, Arno
Geiger, Arno:
Alles über Sally : Roman / Arno Geiger. - München : Hanser, 2010. - 363 S.
ISBN 978-3-446-23484-0 fest geb.
Epik: Romane, Erzählungen - Signatur: Zba Geige - Buch