Hauptmann, Gerhart
Bahnwärter Thiel Novellistische Studie
Buch: Dichtung

Das Unglück ist für den Leser der Erzählung keine Überraschung, die Dramatik baut sich auf, ist von Anfang an spürbar, auch dass Tobias bei einem Unglück mit der Bahn ums Leben kommt, scheint absehbar. Die Schienen, die am Horizont verschwinden; die Züge, die in irrsinniger Geschwindigkeit vorbeirasen, die Erde erbeben lassen, scheinen von Beginn an bedrohlich und stellen damit symbolisch die Gefährlichkeit des Fortschritts dar. Andeutungen wie das Spinnengewebe", die eiserne Netzmasche" wirken unheilschwanger und schicksalsträchtig. Hauptmann schafft es, einen alltäglichen Horror zu zeichnen, es ist von Beginn an eine schreckliche Geschichte, die Dramatik der Ereignisse steigert diese - meiner Meinung nach - nur unwesentlich, denn der Horror, das Unheil ist von Beginn an tief in Thiel verwurzelt. Hauptmann arbeitet mit Symbolik, stellt das private und vorerst innerliche Unglück Thiels der Rücksichtslosigkeit des Fortschritts gegenüber. Bezeichnenderweise ermöglicht gerade der Fortschritt, die Anstellung als Bahnwärter, Thiel seine gesicherte Existenz, sogar seinen Lebensinhalt. Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft. Dann plötzlich zerriss die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte - ein starker Luftdruck - eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende Ungetüm war vorbei. Thiel erledigt seine Arbeit gewissenhaft, stört sich auch nicht an seinen unheimlichen Gedanken, hat sich scheinbar mit seinem Schicksal arrangiert und nach solchen unheimlichen Augenblicken genießt er wieder die Ruhe der Natur, welche eben nur manchmal durch die daherbrausenden Züge unterbrochen wird. Der Bahnwärter reagiert nach dem Unglück, der seinem Sohn das Leben kostet, vorerst paralysiert, lässt sich sogar von Lene trösten, reagiert erst mit Verzögerung und sieht sich vielleicht auch Minna verpflichtet, als er schließlich Lene und das Baby umbringt. Bestimmt wird er in Folge nicht zu Unrecht ins Irrenhaus eingeliefert, denn den zuerst erduldeten und dann realen Horror kann einen Menschen wohl in den Wahnsinn treiben. Hier handelt Thiel ähnlich wie Woyzeck" in Büchners Fragment. Die beiden Personen sind sich in ihrer zunehmender Verzweiflung sehr ähnlich, mir scheint allerdings, dass die finale Bluttat bei Büchners Woyzeck unumgänglich ist, ein Fehlen des Mordes dem Drama den Sinn nehmen würde. Ganz anders ist es bei Thiel zu sehen. Das Drama des Menschen wäre nicht geringer, würde Hauptmann auf die Mordtaten verzichten, vielleicht wäre sogar das Gegenteil der Fall. Thiel, der trotz des Todes seines Sohns mit Lene weiterlebt, sich weiterhin mit seinem Schicksal arrangiert, dies wäre, meiner Meinung nach, für den Leser - den Beobachter - das noch größere Unheil. Mit den Mordtaten findet Thiel am Ende einen Weg aus seinem Dilemma und das Drama geht blutig zu Ende. Hauptmann hat mit Thiel eine Person geschaffen, die sich zufrieden gibt, die nach außen Gelassenheit und manchmal auch Gleichgültigkeit lebt, innerlich allerdings gärt es und dies zeichnet Hauptmann meisterlich. Für mich war dies von Anfang bis Ende eine Schauergeschichte, formvollendet und spannend erzählt, allerdings steigert das Finale, welches schlussendlich Thiel zum Mörder werden lässt, diesen Horror nicht mehr. Dies Hauptmann zum Vorwurf zu machen steht allerdings niemandem zu. *Privatrezension, Amazon.de*


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Personen: Hauptmann, Gerhart

Standort: Zell am See

Schlagwörter: Literatur Psychologischer Roman

DR Romane, Erzählungen HAUP

Hauptmann, Gerhart:
Bahnwärter Thiel : Novellistische Studie / Gerhart Hauptmann. - Stuttgart : Reclam, 1970. - 55 S.
ISBN 978-3-15-006617-1 kt. : Euro 1,70

Zugangsnummer: 0009227001 - Barcode: 2-0000000-8-01090253-0
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