Von den Anständigen und Tüchtigen . . . Elfriede Jelineks neuer, großer Roman: "Gier". Ein drastisches Sittenbild aus der österreichischen Provinz Nach fünf Jahren und mehreren monströsen Theaterstücken wieder ein Roman von Elfriede Jelinek, ein "Unterhaltungsroman" gar. Ein Roman, der die Erwartungen voll erfüllt, die mit dem Namen der Autorin verbunden sind. Auf Elfriede Jelinek reagiert die Öffentlichkeit fast mit Pawlowschen Reflexen. Ihr Erscheinungsbild - ein Kunstwerk der Stilisierung, die Dichterin als Kassandra, als Provokateurin oder Provokation. Pornografie gegen die allgegenwärtige Pornografie, oft aber auch als Gleitmittel für die Schlüpfrigkeit mancher Medien, die die Intellektuelle in einer Art Hass-Liebe verachtet und bedient. "Gier" auch hier. Gier nach Geilheit, die sich in ausgewählten Zitaten niederschlägt. "Gier" statt "Lust", dem als feministischer Porno am gröbsten missdeuteten Werk der Jelinek. Den offenkundigen Zusammenhang zwischen Sexualität und Ökonomie, den sie vor einem Vierteljahrhundert in ihren "Liebhaberinnen" thematisierte, dieser Zusammenhang wird durch Gier zur fatalen Einbahnstraße. Kurt Janisch, dem lendengewaltigen Gendarmen, geht's gar nicht mehr um die Körper und schon gar nicht um die dazugehörigen Frauen, Kurt Janisch, dem gesetzesgewaltigen Ordnungshüter, geht's allein um deren Häuser bzw. Eigentum. So viel vorweg und ohne was zu verraten, weil der Täter von Anfang an feststeht in dem als Krimi entlarvten Sittenbild, dem als "Unterhaltungsroman" getarnten Zeitbild. Schwere Kost scheinbar leicht garniert und so unappetitlich wie nötig serviert. Den Ort ihrer Geburt, Mürzzuschlag, das Mürztal, ich komme von dieser Gegend seit Ewigkeiten nicht los, macht die Autorin wieder einmal zum Schauplatz der bösen Handlung und zum Pars pro Toto der österreichischen Provinz, der Provinz Österreich. Dort haben sich Vater und Sohn Janisch einträchtig auf den Tod spezialisiert, auf Hinterlassenschaften, die mehr oder minder aktiv erwirtschaftet werden. Versucht's der Junior mit der Leibrente, so ist der Alte mit den Leibern selbst zugange. Seine Opfer spielt der Verkehr ihm zu, im plattesten doppelten Wortsinn. An die Frauen mit Realitäten macht sich der Mann mit Realitätssinn in Ausübung seines Dienstes auf den Landstraßen heran, kein besonders schwerer Job für den feschen Gendarmen. Die welke Weiblichkeit kommt seiner stets einsatzbereiten Männlichkeit so weit als möglich entgegen. Im konkreten Fall eine ehemalige Klavierlehrerin namens Gerti, die sich vom Leben enttäuscht aufs Land zurückgezogen hat. Wehrlos verfällt sie dem Hexenmeister, er ihrem Haus. Und da ist dann noch die minderjährige Gabi, ein trotz seiner Jugend bereits weit fortgeschrittener Lehrling. Gabi wird zum Problem und als Leiche in den biologisch gekippten Baggersee gekippt . . . Dass der erotische Hausbesorger eher von jungen Männern als von der zu bedienenden Weiblichkeit angezogen wird, ist nur eine weitere Facette in dieser Fiktion obszöner Wirklichkeiten, wie etwa die von der Autorin in der Natur einer Partei geortete Homoerotik. Denn der gesellschaftliche und politische Alltag, auf den Jelinek beziehungsreich anspielt, ist ihr unerschöpflicher Fundus. Die Macht der Anständigen, Fleißigen und Tüh tigen . . . Prominente und prominente Skandale werden beim Namen genannt, ob Haider, Westenthaler, Prinzhorn & Co., Fuchs aus Gralla, Rosenstingl, Lassing und so weiter. Ein Roman mit mehr Schlüsseln als Schlössern, weit offen und überdeutlich wird eine österreichische Landschaft ausgebreitet, von ökologischen Missständen angekränkelt, drastische Zeichen menschlicher Verbildungen. Der Baggersee, so kalt, dass er Leichen konserviert, tot, wie das erstarrte Leben um ihn - eine wundervolle, beklemmende Beschreibung. Wie bei allen großen Sprachkünstlern, die gleichzeitig große Moralisten und sensible Zeitgenossen sind, ist es die Tragik der Jelinek, dass sie ihre geniale Sprachbeherrschung, ihre wunderbare Ironie, ihre so feinen Wortmittel auf ein so grobes Material wie die Wirklichkeit anwenden muss. *KURIER, Samstag 02.09.00* Anita Pollak
Personen: Jelinek, Elfriede
Standort: Zell am See
DR Romane, Erzählungen JELI
Jelinek, Elfriede:
Gier : ein Unterhaltungsroman / Elfriede Jelinek. - 1. - Reinbek : Rowohlt, 2000. - 461 S.
ISBN 978-3-498-03334-7 fest geb. : ATS 329,00
DR Romane, Erzählungen - Buch: Dichtung