Haslinger, Josef
Opernball Roman
Buch: Dichtung

Walzerklang zum Untergang "Im Warteraum eines Flughafens setzte ich mich neben eine Frau, die in einem Buch las. [...] Als die Frau die Seite fertiggelesen hatte, riss sie das Blatt heraus und warf es neben sich in den Papierkorb. [...] Erstaunt saß ich daneben und dachte mir: Endlich jemand, der weiß, wozu Literatur gut ist, zum Lesen und nicht als Gewichtszulage für das Handgepäck." (Haslinger: Hausdurchsuchung im Elfenbeinturm) Ja, zum Lesen ist der "Opernball" wohl auch gedacht - und als spannende Unterhaltung, die dem Leser streckenweise nicht nur einen guten Magen, sondern auch immer wieder eine ordentliche Portion Nachdenken über das, was so um uns herum geschieht, abverlangt. Aber dazu später. Zunächst sei aber davon abgeraten, dem - zugegeben - verlockenden Beispiel dieser Leserin zu folgen. Haslinger hat einen raffiniert konstruierten Text verfasst und das Zurückblättern-und-noch-einmal-nachschauen-Dürfen kann den Lesegenuss steigern. Wien, Faschingsdonnerstag (Anfang der Neunzigerjahre), Opernballtag. Kurt Fraser sitzt im Aufnahmewagen des Privatsenders ETV und koordiniert die Live-Übertragung aus der Oper. Eigentlich hat er den Auftrag widerwillig übernommen, denn als Kriegsberichterstatter ist er Aufregenderes gewohnt. Doch "plötzlich ging ein merkwürdiges Zittern und Rütteln durch die Reihen der Tanzenden. Die Musik wurde kakophonisch, die Instrumente verstummten innerhalb von Sekunden [...] Menschen schwanken, stolpern, taumeln, erbrechen. Reißen sich noch einmal hoch, können das Gleichgewicht nicht halten. Stoßen ein letztes Krächzen aus. Fallen hin wie Mehlsäcke [...]" ETV hat seine Reality-Katastrophe, der Kriegsberichterstatter sein Massaker ... nur dass auch Frasers Sohn (als Kameramann in der Oper) mit 3000 anderen Menschen den Vergasungstod stirbt. Haslinger lässt uns Leser und Leserinnen teilhaben an den Recherchen, die Fraser anstellt, um hinter die Geheimnisse dieses Giftgasanschlags zu kommen. Er überlässt uns kommentarlos den Berichten und Erinnerungen von überlebenden Opfern und Tätern und bietet uns dadurch eine Reihe von Puzzleteilen, aus denen wir die "Geschichte" rekonstruieren können. Wir tauchen ein in das Leben der Berichterstatter, wir bewegen uns schaudernd und bewundernd, genervt und amüsiert, empört und verständnisvoll, angewidert und mitfühlend zwischen Journalisten, die sich mühsam über die Zeiten zwischen attraktiven Kriegsausbrüchen quälen, Polizisten, die Leberkässemmeln kauend Kinderwagen schleppen und mit sportlichem Eifer Ausländer quälen, Fabrikanten, die Aktionskünstler sponsern, Jugendlichen, die zum Drogenentzug in der mexikanischen Wüste ausgesetzt werden, emeritierte Universitätsprofessoren, die mit der Bewältigung ihrer Vergangenheit beschäftigt sind, Rechtsextremisten, für die weder Ritualmorde noch Internetchatten Fremdwörter sind, ehemaligen Klosterschülern, die sich zu dämonischen Führern aufgeschwungen haben, Hilfsarbeitern, die sich bei ein paar Bier und einem Sonnwendfeuer im Gastarbeiterquartier vergnügen. Wir dürfen einen Blick in die Hinterzimmer von Politik, Justiz, Exekutive, Wirtschaft und Journalismus werfen und schließlich ist es uns vergönnt (oder sind wir dazu verurteilt?), die Personen aus diesem (1995!! erschienenen) Roman und das, was sie tun und erleben, täglich wiederzusehen: Die Ermittlungsmethoden bei den Briefbombenattentaten, der Fall Omofuma und der Ausgang der letzten Bundestagswahlen in Österreich sind dabei nur die augenfälligsten Beispiele. Sicher, Haslinger hat viel hineingepackt in den Roman, aber es ist ein packendes Buch entstanden, das auch für den sprachlich hellhörigen Genießer einiges zu bieten hat. Besprechung von Inge Niederfriniger *ARGE-ALP Leserpreis 2001*


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Personen: Haslinger, Josef

Standort: Zell am See

Schlagwörter: Österreich

Interessenkreis: Z Zeitkritische Romane, Rassen-, Minderheitenprobleme, politische u. soziale Romane

DR Romane, Erzählungen HASL

Haslinger, Josef:
Opernball : Roman / Josef Haslinger. - 10. - Frankfurt am Main : S. Fischer, 1995. - 471 S.
ISBN 978-3-10-030053-9 fest geb. : ATS 321,00

Zugangsnummer: 0001624001 - Barcode: 2-0000000-8-01016215-6
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