DER ZUSTAND DER NATUR UND DIE ZERSTÖRUNG DES MENSCHEN Annie Proulx' vielfach ausgezeichneter Roman ist ein Text, der sich - wie häufig englischsprachige Romane - einer vorschnellen Gattungsdefinition entzieht. Die "Schiffsmeldungen" ließen sich als moderner Schelmenroman ebenso lesen wie als ethnologischer Bericht oder zeitkritisches Buch. In 39 Kapiteln skizziert die Autorin Ereignisse um die Hauptfigur Quoyle. Dieser Name ist identisch mit der alten englischen Schreibweise für "coil", Taurolle, einer spiraligen Rolle, über welche man auf Deck gehen kann. Und Schiffe sowie das Leben an der Küste und mit dem Meer bilden auch das theoretische Fundament, von dem Proulx' Roman handelt. Jedem Kapitel sind Variationen von Knoten aus dem "Ashley- Buch der Knoten" oder Zitate aus einem Seemannslexikon vorangestellt. Vielleicht ein Manierismus, da der folgende Text durch sie weder perspektivisch noch interpretatorisch bestimmt wird. Eher schon erinnern die Kapiteleinleitungen an barocke Prosa, in welcher ihnen häufig die Funktion einer inhaltlichen Vorschau zufällt. Quoyle, die 36jährige Hauptfigur, lebt als Versager im Staate New York. Er schlägt sich in zahlreichen Aushilfsjobs und als bedeutungsloser Reporter durch. Bereits in der Familie wird der schwerfällige Dicke zum Außenseiter, drangsaliert von Vater und Bruder. "Alles kam von Quoyles schlimmster Unfähigkeit, der Unfähigkeit, normal auszusehen." Nirgendwo gelingt es dem "traurigen Helden", sich zurechtzufinden. Bizarre Topographie Quoyle heiratet eine Nym phomanin, der er hoffnungslos verfällt und mit welcher er zwei Mädchen hat. Die Frau, die ihm "einen Monat Glückseligkeit und sechs Jahre Leid bescherte", sorgt sich weder um ihn noch um die Kinder. Als sie ihn schließlich verläßt, verunglückt sie bei einem Autounfall mit ihrem neuen Liebhaber tödlich. Auch Quoyles Eltern sterben, so folgt er der Aufforderung seiner Tante und zieht mit dieser und den beiden Kindern nach Neufundland, der Heimat der Quoyles. Diesem Aufenthalt ist das Buch gewidmet, während die skizzierte Vorgeschichte nur einen schmalen Rand einnimmt. Durch die Figur der Tante stellt die Autorin die Verbindungslinien zur ursprünglich-bizarren geographischen und mentalen Topographie Neufundlands her. Ebenso ist sie die Erzählerin und Bewahrerin der Familiengeschichte der Quoyles, die in ihrer oftmals absurden Schroffheit stellvertretend für ein Inselleben stehen kann. Dunkle Sehnsüchte Quoyle wird aus der heruntergekommenen Aggressivität einer amerikanischen Großstadt ohne jede Vorbereitung in ein völlig neues, ihm unbekanntes Lebensgefühl geworfen, in dem er sich anfangs mühsam, später jedoch immer besser orientiert. Wieder arbeitet er bei einer bedeutungslosen Provinzzeitung, für die er "Schiffsmeldungen", Berichte über ein- und auslaufende Schiffe, verfaßt, während die Tante eine Werkstatt für Lederpolsterungen betreibt. Ist Quoyles journalistische Arbeit auch ohne Belang, so wird er mit einer Fülle an neuen Einsichten und Lebensplänen konfrontiert - und mit ihm der Leser dieses Buches -, die weit über den Horizont eines "Schelmenromans" hinausweisen. Sie stellen Reflexionen über Zustand und Zerstörung der Natur an, sehen diese als eine Folge der Zerstörung des Menschen, der seine oftmals dunklen Sehnsüchte zum Zentrum seines Denkens und Handelns erhoben hat. Geschickt verarbeitet Proulx Ethnologie, Zeit- und Sozialkritik und eine Fülle an Fiktion zu einer Einheit, in der das Handeln der Figuren ebenso logisch wie selbstverständlich erscheint. Schiffsmeldungen lebt von dieser oftmals ursprünglich-fremdartig anmutenden Bilderfülle, die in einer variantenreichen Sprache dargestellt wird, einer Sprache, die ihren Rhythmus immer wieder wechselt, auch den Stil, ohne daß dadurch ein Bruch entstehen würde. *DER STANDARD, 24. März 1995* Günther Freitag

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Personen: Proulx, E. Annie

Standort: Zell am See